■ Linke und Lametta: Oh Tannenbaum!
Alljährlich werden altlinke Eltern von ihren Kindern zur Weihnachtszeit in schwere Sinnkrisen gestürzt. Um auch taz-LeserInnen das „Warten aufs Christkind“ zu verkürzen, beginnen wir heute eine kleine Vorweihnachtsserie.
Als ihr Kinderlein zum vierzehntenmal hintereinander kommet, kommt auch Papi ins Kinderzimmer gestürzt. Wild fuchtelt er und schreit. Papi ist, wie jeden Dezember, nicht mehr zurechnungsfähig. Seit zwei Monaten wird der linksalternative Langhaarvater von seiner Tochter gefoltert. Das Tatwerkzeug: eine Weihnachtsliederkassette. Warum nur kauft dieses Kind keine Horrorvideos? Die Bravo? Dabei ist sie schon elf! Und in einem alternativen problemorientierten Kinderladen biodynamisch erzogen worden! Jetzt der Gnadenstoß: Schneeglöckchen, Weißröckchen. Papi knirscht. Nie hätte er sich einen solchen Erziehungsmißerfolg träumen lassen. Er, der er als 15jähriger per Sitzstreik unterm Weihnachtsbaum den zivilen Ungehorsam übte, einen Protestboller an einer Kerze entzündete und mit Puddingentzug nicht unter vier Wochen bestraft wurde. Streng wie Knecht Ruprecht schaut Papi jetzt aus seinem karierten Flanellhemd, sucht festen Stand auf seinen Birkenstock-Imitaten und setzt zu schonungsloser Aufklärung an. Eine Stunde später ist alles gesagt. Die Verlogenheit, diese zutiefst bürgerliche Konvention auch noch „Fest der Liebe“ zu nennen, ist ebenso enttarnt wie der verabscheuungswürdige Kommerzzwang, die Ökokatastrophe des Tannenmißbrauchs in Tateinheit mit dem Verrat an der Graswurzelrevolution, die gefährliche Vorspiegelung heiler Kerzenwelten und die Verschwendung wertvollen Geschenkpapierrohstoffes. „Ist es das, was du willst?“ fragt Papi. „Nein“, sagt die Tochter, „ich will den Nintendo. Und 'nen recycelbaren Plastik-Weihnachtsbaum.“ Das trifft. Papi weiß: Dieser abartige Weihnachtswunsch ist das Resultat der Trennung der Eltern. Die Kompensation für mangelnde Wärme in der WG. Oder gar ein Trauma wegen des frühen Abstillens, was notwendig war ob der emanzipatorischen Umtriebe der damaligen Lebensabschnittsbegleiterin. Papi ist mürbe. Er schleicht zum Blumengroßmarkt. Alles geht gut: Niemand sieht ihn. Kurz darauf zwängen sich Papi und ein Baum höchst konspirativ durch den Hintereingang. Den schmück' ich jetzt, jubelt das Kind. Als Papi gucken darf, versagt die Stimme. Der Baum ist entstellt. Grellpink Lametta überdeckt die Zweige, laubgesägte Sterne sind neben die bunte Lichterkette drapiert. Wortlos streift Papi das Weihnachtsmannkostüm vom vergangenen Jahr über. Stille Nacht, singt er, Heilige Nacht. Und weint. Michaela Schießl
(Fortsetzung folgt zum zweiten Advent in einer Woche)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen