Wer nicht lächelt, ist tot

■ Gesichter der Großstadt: Dem 73jährigen obdachlosen Engländer B., seit vierzig Jahren in Berlin, wird die Sozialhilfe verweigert, die ihm ein Zimmer sichern würde

„Ich lebe noch.“ Herr Blue* legt Wert auf diese Feststellung. Zweimal schon haben ihn deutsche Bürokraten für tot erklärt, 1985 und 1992. Die Landesversicherungsanstalt Hamburg stellte beide Male die Zahlung der Rente an Herrn Blue ein. Nicht, daß sie dem deutschen Staat damit viel Geld gespart hätte: 750 Mark bekommt Herr Blue im Monat, noch mal soviel seine von ihm geschiedene Ehefrau. FÜr eine Wohnung reicht das nicht. Herr Blue lebt auf der Straße und in Obdachlosenheimen. Seit elf Jahren. Seit dem Jahr, in dem er pensioniert wurde, seine Frau sich von ihm scheiden ließ und er über Nacht fast erblindete.

Wenn Herr Blue heute etwas unterschreiben muß, dann ertastet er mit seinen Fingern die rechte untere Ecke des Formulars und hofft, daß der Kugelschreiber die richtige Zeile trifft. Manchmal kommt es vor, daß er sich die Zigarette falsch herum in den Mund steckt und den Filter anzündet. Trotzdem läuft der großgewachsene 73jährige mit vorsichtigen Schritten oft viele Stunden durch die Straßen, die sein Zuhause sind. Der Wedding, Reinickendorf, das ist sein Kiez. Hier kennt er Menschen und Wege. Seine BVG-Karte haben sie mitsamt seiner Tasche vor drei Tagen schon wieder geklaut. Aus seinem Vierbettzimmer in der Notunterkunft in der Fasanenstrße, wo er Zuflucht vor Schnee und Kälte und den Prügeln der Skinheads gefunden hat.

Sein Deutsch trägt einen eigentümlich britisch-berlinerischen Akzent. Herr Blue ist Brite und war bestimmt einmal das, was sich deutsche Schulbücher unter einem britischen Gentleman vorstellen. Die Jahre auf der Straße haben ihren Tribut gefordert, aber noch immer geht er aufrecht, fast würdevoll, küßt „Damen“, wie er sie nennt, die Hand und läßt ihnen den Vortritt. Herr Blue trinkt nicht, und die Augen in dem langen schmalen Gesicht wirken trotz des Alters-Stars ungewöhnlich wach. Das graue Haar mit den gelben Strähnen hat er ordentlich zurückgekämmt, und wären da nicht die verbogene Brille, der schlecht sitzende Anzug und die zerrissene Plastiktüte in seiner Hand – man sähe ihm sein Schicksal kaum an. „Ich kann nicht weinen, ich will nicht weinen“, sagt Herr Blue bestimmt. Er hebt seinen linken Arm und tut so, als spähe er angestrengt in den langen Ärmel seines Wintermantels: „Vielleicht kommt mein Humor von dort.“

In der „Beratungsstelle für Obdachlose“ kümmern sich Dorothea Simon-Zeiske und Jürgen Bustert um Herrn Blue. Hier kann er jeden Tag seine Kleider wechseln. Seit man ihm seine Tasche gestohlen hat, besitzt Herr Blue nur noch das, was er am Leib trägt. Bustert und Simon-Zeiske betreuten ihn auch in seinem Prozeß. Seither zweifeln sie am vereinten Europa.

Am 16. September diesen Jahres hat das Oberverwaltungsgericht nämlich entschieden, Herr Blue habe kein Recht, in Deutschland die ergänzende Sozialhilfe zu bekommen, die ihm zusammen mit seinen 750 Mark Rente die Lebensgrundlage sichern würde. Es ging um 150 oder 250 Mark im Monat. Zusätzliches Geld, das ihm ermöglichen würde, ein Zimmer zu nehmen. Nein, sagte das Gericht und verwies auf Herrn Blues britischen Paß. Aber, so die Richter, der deutsche Staat stehe selbstverständlich für ein Ticket nach London ein. Oneway!

„Ick bin Deutscher.“ Herr Blue hustet und senkt den Kopf. „Berlin ist meine Heimat.“ 37 Jahre seines Lebens hat er in Berlin verbracht – mehr als in England, das er mit 16 verließ, um als Matrose das Empire auf allen Weltmeeren zu verteidigen. In Berlin arbeitete er als Fernfahrer. Seine Ex-Frau und sein kranker Sohn sind Deutsche, seine verstorbene Freundin war Deutsche, seine Freunde – alles Berliner. „In London“, sagt Jürgen Bustert, „wäre Herr Blue hoffnungslos verloren.“ Herr Blue lebt, und er lebt gerne. Erst mit 112 möchte er sterben, in seiner Heimatstadt Berlin. Und bis dahin: immer lächeln, nicht unterkriegen lassen. Der Krieg habe ihn das gelehrt, sagt Herr Blue und erinnert sich: „Immer kämpfen, kämpfen, kämpfen. Danach mußten wir lächeln. Wenn man nicht lächelt, ist man tot.“ Kai Strittmatter

* Name geändert