Gekonfitürt und gefedert

Deutsche Erstaufführung von Jan Fabres „Altra Faccia del Tempo“ in Frankfurt  ■ Von Arnd Wesemann

Sobald zweihundert Porzellanteller jäh vom Bühnenhimmel stürzen und krachend auf dem schwarzen Grund zerschmettern, ist der Traum vorbei. Drei Tänzerinnen entschweben wie Engel. Der Vorhang schließt sich. „Was werden wir tun? Auf die andere Seite der Zeit gehen und zusammen einschlafen“, notierte der flämische Theaterallrounder Jan Fabre in einem seiner frühen Dramen – eine Hoffnung auf das Unmögliche, die der Antwerpener Präzisions-Choreograph mit „Da un'altra Faccia del Tempo“ nun einlöst. Er ließ ein Land hinter den Spiegeln betreten. Und nannte es: „Auf der anderen Seite der Zeit“.

In der Frankfurter Kongreßhalle hebt sich aus dem Dunkel eine Tänzerriege, die zu Eugeniusz Knapiks „Partitia“-Klängen das Endlose des Endlosen des Immerselben exerziert – solange, bis das Publikum vergessen hat, nach Sinn und Verstand zu suchen. Die Kulisse ist ein schwarzer Girlandenwald aus zahllosen lotrechten Kettengliedern, durch welche die Tänzer beinahe übergangslos im Raum erscheinen und verschwinden können. In der Diagonale durchmessen sie eine Architektur ohne Wände. Die „Monochromie“ ihrer wenigen Ballettgrundschritte halten sie solange durch, bis auch das Publikum in jener anderen Welt angekommen scheint, die aus reiner Zeit besteht, aus einer Dauer in einem beinah raumlosen Ort.

Die synchrone Repetition des Immergleichen endet schlagartig. Den Tänzern entfallen aus Säcken die Utensilien der Fabresken Requisitenkammer: Teller, Scheren, Fliegenklatschen. Teller als Spiegel, Scheren als Arme und Beine menschlicher Körper, Fliegenklatschen als Zepter des Insektenkönigs Jan Fabre. Nebst Ritterrüstungen handelt es sich um Reminiszenzen an Fabres gewaltige Operntrilogie „The Minds of Helena Troubleyn“.

Hier wie in der Oper ändern die Dinge ihren Sinn ohne Verstand. Verlieren ihre vorgeformte Bedeutung, damit die Welt aus den Fugen gerät. Auf Türmen von Tellern sitzen Tänzer, springen auf, jagen einen unschuldig Schuldigen. Nackte Männer kopulieren, Kontorsionisten verbiegen ihre Körper, Frauen schlagen mit aller Sanftheit auf der anderen nacktes Hinterteil. Ein Riese auf Kothurnen aus Porzellantellern überdröhnt die Bühne. Ein Paar in Ritterrüstungen hält ein Paar feenhaft nackter Männer fest, die wie Hähne mit den Läufen scharren. Ein Zauber gerät in die Guckkastenbühne, welche die einsam brennende Seele einer Frau in den Straßen von Antwerpen abbildet. Die Seele der Helena Troubleyn.

„Da un'altra Faccia del Tempo“ ist halb eine eigenständige Choreographie (wie letztjährig Fabres „Sound of One Hand Clapping“), halb eine „Dance Section“ zu Fabres Operntrilogie „The Minds of Helena Troubleyn“, die 1995 abgeschlossen sein soll. Eine Sangeshommage an eine alte Frau in Antwerpen, die fast ausschließlich ihrer Phantasie lebte, die ständig sang, um die Angst vor dem Tod und der Einsamkeit zu verscheuchen.

Die Choreographie spielt sich in ihrem Kopf ab. Sie erlebt ihren eigenen Untergang. Der Satyr und Frankfurter Tänzer Antony Rizzi („Dr. Rizzi will cure you“) bietet als Teufel wollüstig-süße Verlockungen dar und entzündet zugleich die Rache des Dionysos. Zerstörung ist sein Fach. Die bacchantischen Tänzerinnen sind seine Präzisionsinstrumente, die wie ansteckende Bakterien durch die Bühne und den Kopf des Betrachters toben. Die beiden Schauspieler Els Deceukelier und Marc „Moon“ Van Overmeir werden mit Konfitüre bestrichen und gefedert.

Das Feuer im Kopf scheint Flammen zu schlagen. Die Bühne taucht wie ein Scheiterhaufen in tiefes Rot. Rizzi ist mit Exkrementen besudelt, die Bacchantinen in feuerroten Kostümen setzen ihren Stachel auf. Wie Skorpione tanzen sie am Boden. Ein Stich, der für Helena Troubleyn tödlich ist, für das Publikum zumindest betäubend. Die Choreographie ordnet sich zurück in strenge Exerzitien, als begänne nun der raumlose Rückflug ins Theater, ein Traum, der donnernd endet. Wir wissen, wie: Zweihundert Teller zerbrechen in einem Bruchteil von Sekunden auf der Bühne und machen sie unbrauchbar.

Nächste Stationen der Tournee: Im Mai auf dem Springdance-Festival, Utrecht, im Mercat de las Flors, Barcelona und im de Singel, Antwerpen