„Das Virus macht die Seele löchrig“

■ Zum Welt-Aids-Tag: Interview mit dem Berliner Arzt Christoph Zink über Langzeitüberlebende, über Angstverarbeitung und Streßvermeidung, über das Starren auf die Medienberichte und Aids-Statistik, über Sexualität, Drogen und Überlebensrezepte

taz: Spätestens seit der Welt- Aids-Konferenz von Berlin sind die „Langzeitüberlebenden“ die große Hoffnung. Nach gängiger Definition bist du ein solcher Langzeitüberlebender. Wie lebt es sich mit diesem Etikett?

Christoph Zink: Ich weiß nicht sicher, ob ich in diese Definition passe, weil es von mir keinen Test gibt, der älter ist als etwa vier Jahre. Ich glaube zwar, daß ich mich vor etwa zwölf Jahren angesteckt habe, denn der Verlauf seitdem deutet darauf hin. Mir ist das aber ziemlich egal, weil ich das Konzept vom „Langzeitüberlebenden“ ohnehin nicht besonders hilfreich finde. Damit wird unter den Infizierten wieder eine neue Schublade aufgemacht, eine Art Sonderfall im Sonderfall. Das suggeriert, daß jemand trotz HIV vielleicht doch unsterblich sein könnte, wie es die übrigen Menschen oft glauben. Ich bin eben einer von denen, die schon lange mit HIV leben und die sowenig wie alle anderen Erdbewohner wissen, was morgen passiert und wie lange sie zukünftig noch leben werden.

Die Langzeitüberlebenden geben aber vielen Infizierten ein beruhigendes Gefühl. Man weiß jetzt, daß eine ganze Reihe von Menschen lange Zeit bei guter Gesundheit mit dem Virus leben kann. Das widerspricht der landläufigen Meinung: Noch heute glauben mehr als 50 Prozent der Bevölkerung, daß man mit HIV nach kurzer Zeit stirbt. Diese furchtbare Gleichsetzung von HIV und schnellem Tod ist zumindest aufgebrochen.

Eigentlich ist schon seit vielen Jahren statistisch klar, daß man mit HIV nicht gleich stirbt. Die Nachricht des positiven Testbefunds ist nicht mehr als die amtliche Bestätigung der Sterblichkeit, ohne nähere Angaben des Zeitpunkts. Gut, es mag sein, daß man durch die Beobachtung von sog. Langzeitüberlebenden rückschließen kann auf bestimmte günstige Faktoren im Krankheitsverlauf. Dabei ist aber bisher nicht viel herausgekommen. Vor allem ist das Starren auf diese Sondergruppe aber eine rein statistische Operation: der Versuch, von Durchschnittswerten auf die individuelle Prognose zu schließen. Das ist riskant, weil HIV-Infektionen eben sehr verschieden verlaufen. Es gibt kurze und sehr lange Verläufe und viel zwischendrin. Die Suche nach dem „Rezept“ der Langzeitüberlebenden ist letztlich die Suche nach der Unsterblichkeit. Das kann nicht sinnvoll sein.

Vielleicht will man ja nur bei der individuellen Krankheitsbewältigung ein bißchen was abgucken von anderen. Jeder hat andere Strategien, mit der Krankheit fertigzuwerden, und manche kommen eben erstaunlich gut damit klar.

Es kann gut sein, daß die Art, mit dem neuen Risiko umzugehen, die Prognose beeinflußt. Für mich ist aber der wichtigste Schritt der Krankheitsverarbeitung bei HIV und Aids, daß man sich das Wahrsagen abgewöhnt. Mit Hochrechnungen und statistischen Manövern kriegt man nichts über die eigene Zukunft heraus, das sollte man sich klarmachen. Natürlich freut es mich, wenn mir das Bundesgesundheitsamt vorrechnet, daß 2 oder 3 Prozent aller Infizierten vermutlich mehr als 20 Jahre mit HIV überleben werden. Aber was hilft mir das für die eigene Krankheitsverarbeitung? Was nützt mir das, wenn ich eines Tages mit meiner nächsten Lungenentzündung fertigwerden muß? Außerdem versperrt das Starren auf die HIV-Statistik den Blick für die übrigen Risiken des Lebens. Alle anderen Risiken, die wir in dieser rundum bedrohten Welt täglich eingehen, können sämtliche HIV- Risikoabschätzungen von heute auf morgen überflüssig machen. Natürlich sollte man etwas tun, um sich gesundzuhalten. Aber es macht keinen Sinn, sich vorzunehmen, zum Langzeitüberlebenden zu werden. Das kommt mir wie ein makabrer Wettbewerb vor: Wer schafft's am längsten?

Ist es nicht völlig normal und auch richtig, daß jeder für sich glaubt, er werde das Virus überleben?

Zunächst mal: Es gibt eine kleine Gruppe von Menschen, die im Lauf ihrer Krankheit neutralisierende Antikörper entwickeln – nicht in Konzentrationen, die eine Heilung versprechen, aber es gibt sie, und das ist ermutigend zu wissen. Außerdem gibt es wohl einzelne Menschen, die wirklich gegen HIV immun sind und sich nicht anstecken. Viel wichtiger scheint mir aber ein anderer Gedanke: Wir alle haben den kaum korrigierbaren Glauben, unsterblich zu sein. Sobald sich am Horizont die Chance ergibt, Aids zu überleben, werden wir versuchen, an diese Chance zu glauben. Wir sollten uns aber nicht darauf verlassen, denn dieses System bricht spätestens dann zusammen, wenn ein neuer Krankheitsschub kommt. Wir müssen unsere Zukunft offenlassen. Es gibt im übrigen keine Vorschrift, wie lange das Leben eines Menschen zu dauern hat. Auf der Welt sterben täglich 20.000 Menschen schon als Kinder an Hunger und Krankheiten. Gleichzeitig habe ich Menschen erlebt, die mit 90 Jahren noch vorwurfsvoll waren, weil sie bald sterben sollten. Wir brauchen ein Gefühl für unsere eigene Biographie, für das eigene Leben, das ist wichtig, und das hängt nicht von seiner Dauer ab. Wir sollten versuchen, uns nicht ständig über das eigene Schicksal zu beschweren.

Jeder hat sein individuelles Überlebenskonzept. Deines sieht so aus, daß du einen Teil deines Lebens auf den Kanarischen Inseln verbringst. Ist Berlin wirklich so ungesund?

Schon früher habe ich einen Teil meiner Zeit auf den Kanaren verbracht. Das habe ich jetzt intensiviert. Ich habe mir in der frühen Phase meines Krankseins mein eigenes Krankheitsmodell ausgedacht, für das dieses Pendeln zwischen Berlin und Gomera günstig scheint. Ich glaube, daß HIV nicht nur den Körper durchlässig und angreifbar macht für alle möglichen Erreger, sondern daß HIV auch die Seele löchrig macht. Es macht uns empfindlicher und beeinflußbarer für Vorurteile, Meinungen, Zuschreibungen, Prognosen von außen, die in Sachen HIV und Aids ständig auf uns niederprasseln. Wenn ich mich von der Stadt auf die Insel zurückziehe, dann nicht nur, um Schutz zu suchen vor der aggressiven Großstadt, vor schlechter Luft und miesem Klima. Der entscheidende Punkt ist, daß mir das Leben auf der Insel Zeit und Raum gibt für eigene Gedanken und mich seelisch abschirmt. Ich will nicht hören, was all die klugen Leute über meine Zukunft denken. Es kommt für unser Lebensgefühl nicht auf die Zukunft an, sondern nur auf den einzelnen heutigen Tag.

Gehört es auch zu deiner Strategie, daß du dich bewußt nicht schonst? Du arbeitest manchmal körperlich sehr hart. Und wenn dich dein Arzt beim Erde-Sieben auf dem Komposthaufen sehen könnte, umzingelt von ein paar Millionen Mikroben, dann würde der sicherlich haareraufend davonlaufen.

Ich beobachte mich sehr genau beim Arbeiten. Und ich mache nicht mehr, als mir Spaß macht und ich glaube, mir zumuten zu können. Ich bin aber überzeugt, daß jedes Gesundwerden auch mit dosierter Belastung und Training zu tun hat – durch Sport oder eine körperliche Arbeit, die einem Spaß macht. Es macht bestimmt keinen Sinn, sich zu schonen und in Watte zu packen. Aber ich entscheide nach Tagesform, was ich anpacke, und das geht ganz gut.

Wer HIV und Aids hat, muß mit Verzweiflung und Todesängsten fertigwerden.

Ich glaube, unsere Angst entsteht oft durch eine ungenaue Wahrnehmung. Wir vergessen alle anderen Risiken und reduzieren unsere Wahrnehmung auf HIV. Mir hilft es, keine Angst vor HIV zu haben, wenn ich an Tschernobyl denke oder an Bosnien. Das relativiert die lähmende Angst gewaltig. Es gibt eine wichtige Regel, die ich in Lateinamerika in Zeiten der Repression gelernt habe: Du darfst deinen Gegner nicht überschätzen. Wir sollten deshalb auch dieses Virus nicht überschätzen, sondern es mit anderen Risiken vergleichen. Erst dann entsteht eine realistische Sichtweise. Angst haben wir auch, weil wir ständig in die unsichere Zukunft blicken und uns alle möglichen schlimmen Bilder ausmalen. Die Zukunft wird aber immer ganz anders sein, als wir sie uns angstbesetzt vorher ausgedacht haben. Man muß die eigenen Gedanken also von der Zukunft täglich zurückholen in die Gegenwart. Dort gibt es genug zu tun.

Angstreduzierung ist mühsam. Und wird täglich torpediert. Du läufst zum Kiosk und kriegst dort – wie jetzt während des Blut-Skandals – deinen Tod täglich um die Ohren gehauen. Die Gleichsetzung von HIV oder Aids mit dem Tod wird dir in aller Brutalität jeden Morgen zum Frühstück serviert. Dir wird täglich gesagt: „Gib Aids keine Chance!“ Kann man sich davor schützen?

Man kann sich davon nur befreien, wenn man sich seine eigenen Gedanken macht. Es gibt Argumente und korrigierende Ideen, die ich mir aufgeschrieben habe und seit Jahren immer wieder regelrecht vorlese, um mich von diesem Mediengewitter zu erholen. Die Gleichung heißt eben nicht HIV gleich Tod, sondern Leben gleich, irgendwann einmal, Tod. Niemand von uns weiß, ob er nächstes Jahr noch lebt. Und gegenüber einem Magenkarzinom, gegenüber einer schweren Herzmuskelentzündung oder einem Leben in Bangladesch ist HIV für mich eine sehr beruhigende Diagnose. Ich versuche mich von dem Mediengeschrei zu befreien. Und ich versuche, mich mit Menschen zu umgeben, die mir guttun. Vielleicht pflege ich deshalb eine gewisse Distanz zu den Selbsthilfegruppen, weil ich auch dort eine Sichtweise von Aids spüre, von der ich merke, daß sie mir nicht bekommt.

Was meinst du damit?

Ich finde, dort wird das Gefühl des Nachteils, des Benachteiligtseins, der besonderen Betroffenheit konserviert. Dieses Gefühl entsteht natürlich sehr leicht, wenn man täglich mit anderen Menschen umgeht, die das gleiche Problem haben, und sich in ihnen zu sehen beginnt. Aber so wird Aids zum Ausnahmefall unter den Krankheiten und damit besonders schlimm. Diese Einschätzung führt zu einer tiefen Traurigkeit, die auf Dauer bestimmt nicht gesund ist.

Ein wichtiger Punkt für das Immunsystem ist das Streßgeschehen. Inzwischen weiß jeder, daß Streß den Krankheitsverlauf beschleunigt. Wenn man das weiß, macht man sich vermutlich noch mehr Streß, um den Streß zu vermeiden. Wie kommt man da raus?

Was man als „Streß“ empfindet, ist eine sehr persönliche Sache. Ich denke, jeder einzelne muß allmählich selbst spüren lernen, unter welchen Bedingungen und mit welchen Gedanken es ihm gutgeht oder schlecht. Den fatalen gesellschaftlichen Umgang mit dieser Krankheit halte ich aber für den zentralen Streßfaktor. Wir müssen uns von ihm freimachen, so gut es geht. Nichts an ihm ist begründet.

Heißt das, daß man beim nächsten Aids-Skandal auch mal für vierzehn Tage keine Zeitung liest, wenn dort täglich die Gleichsetzung von HIV und Hölle transportiert wird?

Ich verweigere mich dann total. Ich muß das nicht alles lesen. Ich habe eine ganze Zeit lang zu Aids nur gelesen, was ich mir selber geschrieben habe. Man muß sich immer wieder klarmachen, daß die große „Spezialkatastrophe“ Aids es den übrigen Menschen offenbar erleichtert, alle anderen hausgemachten Katastrophen auf dieser Welt zu verdrängen. Je schlimmer man Aids findet, um so harmloser erscheint das Ozonloch, die Armut, die Massenarbeitslosigkeit und letztlich die eigene Sterblichkeit. Aber Streß läßt sich natürlich auch auf andere Art und Weise vermeiden: durch das Lernen von Entspannungstechniken oder, wer es sich ermöglichen kann, durch gelegentliche Flucht auf die Insel. Ich kann mir aber auch bewußt einen ganz anderen Streß machen, der mich ablenkt vom HIV-Streß. Dies alles kann jeder nur selber herausfinden, durch sensibles Wahrnehmen der eigenen Gefühle. Ich denke, das ist das wichtigste „Rezept“.

Welche Rolle spielt die Sexualität bei der Krankheitsbewältigung?

Auch da gibt es keine goldene Regel. Alles, was uns zurück auf den Augenblick und weg von der Zunkunftsphantasie führt, alles, was unser Körpergefühl verbessert, alles, was Spaß macht und uns glücklich macht, hat bestimmt einen positiven Effekt. Sexualität ist für mich ein einfacher Weg, um den Augenblick zu spüren, und deshalb sehr wichtig. Für manche ist das vielleicht ganz anders, ich weiß es nicht. Ich persönlich glaube jedenfalls, daß sich bei gemeinsamer Lust die T-Zellen freudig erhöhen.

Infizierte, die schon lange mit dem Virus leben, haben vermutlich weniger aggressive Virusstämme. Wenn das so ist, müßten auch Positive beim Sex mit anderen Positiven auf sichere Praktiken achten, um sich keine neuen Viren zu holen.

Die einzelnen Virusstämme scheinen tatsächlich verschieden zu sein. Es gibt bei HIV also die Möglichkeit, sich mehrfach zu infizieren. Man kann sich seine Chancen durchaus verschlechtern und sollte sich deshalb an den Regeln für Safer Sex orientieren. Die Verschiedenartigkeit der Viren gibt aber auch sonst Anlaß zur Vorsicht: Man sollte nicht unbedingt glauben, es läge am eigenen „Rezept“, wenn man mit HIV oder Aids länger oder kürzer lebt.

Bei den Treffen von Langzeitüberlebenden wurde viel über die Wirkung von Drogen geredet. Viele glauben, daß vor allem Haschisch und Marihuana einen schützenden Effekt haben.

Wir haben mit Haschisch oder Marihuana kein neues Medikament gefunden, das man nur zu nehmen braucht, um gleich länger zu leben. Ich glaube aber, daß wir mit Hilfe von solchen Stoffen in unserem Kopf Gedankenprozesse auslösen können, die uns helfen, uns zurückzuholen auf den Augenblick, uns zu lösen von Zukunftsphantasien und uns zu entspannen – das gelingt mit Haschisch, wie ich finde, recht gut.

Ein ganz ähnlicher Effekt wird aber auch antidepressiven Substanzen zugeschrieben, wie sie im Johanniskraut zu finden sind, das heißt: nicht im Stoff, sondern im Kopf liegt offenbar das Wirkprinzip. Es gibt viele nützliche Dinge, die uns helfen können, aber jeder muß sie für sich selbst entdecken und ausprobieren. Interview: Manfred Kriener