Drei Solisten und drei Statuen

■ Ein pralles Theaterwochenende mit vier Premieren Von Julia Kossmann und Till Briegleb

„Selbstmord in Madrid“ im Thalia

Franz Wassermanns Selbsterkenntnis hilft ihm nichts. Er kennt seine Ängste und ihre Herkunft, er weiß um das „Warum“ seiner Niederlagen und die Allmacht sinnloser, verinnerlichter Ordnungssysteme, wie „Gerade sitzen!“, „Pünktlich sein!“, „Fussel weg!“ Doch abstreifen kann der unglückliche Versicherungsvertreter keinen seiner Zwänge. Selbst bei der peniblen Selbsttötungsvorbereitung in einer Sylvesternacht in einer Madrider Pension regiert die perverse Korrektheit. Während ein paar Türen weiter seine erfolgreichen Kollegen ihre Jahresabschlüsse feiern und nichts von dem hilflosen Versuch des ihnen nachgereisten Wassermanns wissen, im Tod über ein ungelebtes Leben zu triumphieren, begeht dieser seinen Abgang in einer spießig-feierliche Normalität.

Schuhe bohnern, Frack anlegen, einsam ein wenig Konfetti schmeißen, eine Tischbombe anzünden, nichts würde auf eine bevorstehende Entlaibung deuten, wäre da nicht Wassermanns Erzählung. Von seiner mit kleinbürgerlichen Sittegesetzen beladenen Kindheit, seiner unglücklichen Ehe zu einer unpünktlichen Frau, von den Demütigungen als Jugendlicher und im Beruf reicht seine finale Rückschau. In dem expressionistisch zerstückelten Raum des amerikanischen Künstlers Robert Longo versteigt sich Pohl, gleichzeitig Autor und Hauptdarsteller des Stückes, zuletzt in eine kafkaeske Weltgesetzdemontage und stirbt schlußendlich als Käfer.

In der Regie seiner Frau Sanda Weigl beeindruckt Pohl als sich selbst-zerstörende Psycho-Maschine, der die Normalität zum Verhängis wird. Seine in schöne Worte und Metaphern gefaßte Lebensabstoßung, die aus einem tauben, nicht zum Geist gehörenden Körper entsteigt, um endlich die gerechte ewige Leere zu hinterlassen, entwickelt eine spannende und präzise Studie der Lebensunfähigkeit. tlb

„Unterbrechen Sie mich bitte nicht...“ auf Kampnagel

Drei Statuen stehen auf einem Rasenstück, erstarrt in einer Teepause. Ein Rocker (Christian von Richthofen) kommt und bemerkt, daß er die Figuren mit rhythmischen Berührungen zu Sprechen bekommt. Mit Händen und Trommelstöcken entlockt er ihnen absurde Dialoge. Doch mit zunehmender Gesprächsdauer muß er immer mehr Energie aufwenden, um das Trio (Marion Martienzen, Max Eipp, Ulrich Cyran) zum Sprechen zu bewegen. Schließlich bricht er erschöpft zusammen und die Figuren kehren in ihre Starre zurück.

Dies ist schon die ganze Inszenierungsidee von Unterbrechen Sie mich bitte nicht, ich schweige!, mit der Birgitta Linde diverse Dramolette des russischen Autors Vladimir Kazakov in Szene setzt. Ihr reduzierter Ansatz vertraut ganz auf die rhythmischen Landschaften von Richthofens und die amüsant-verqueren Gespräche, die Kazakov in der Tradition der russischen Absurden wie Charms und Vvedenskij entwickelte. Die Konversationsfetzen, deren scheinbare Sinnlosigkeit meist zu einem grotesken Bonmont führt, wandern zwischen einem poetischen Blender, einer naiv-gewitzten Salondame und einem bemühten Beamtentyp hin- und her und unterliegen weder Zeit- noch Raumgesetzen.

Die Verwebung der Sprache mit den Rhythmen funktioniert allerdings nicht immer wirklich überzeugend. Über weite Strecken entsteht durch mangelnde Variationsbreite eine gewisse Monotonie, die dem Publikum die Entscheidung zwischen Meditation und Langeweile offen läßt. Dennoch gilt für die Aufführung der vergnüglichen Sprachideen von Kazakov, was er seiner Protagonistin in den Mund legt: „Einmal war ich verliebt, einmal war ich nicht verliebt. Beide Fälle haben sich mir tief ins Gedächtnis eingeprägt.“ tlb

„Der Futurologische Kongress“ im JAK

Die Grenzen von Schein und Sein verwischen zunehmend in Zeiten von Virtual Reality und Cyber-Space. Solcherlei auf dem Theater, dem klassischen Medium konstruierter Welten, mit Hilfe eines Romans aufzugreifen, scheint keine einfache Aufgabe. Der Schauspieler Erik Schäffler hat sie für das Jugendtheater auf Kampnagel meisterhaft gelöst, am Freitag war die Premiere der szenischen Einrichtung des Romans Der futurologische Kongreß, erzählend gespielt und spielend erzählt von Erik Schäffler, der den Abend mit Petra Kelling und Regina Weidele erarbeitete.

Schäffler ist Ijon Tichy, der vom Kongreß berichtet, durch halluzionogene Höllen geht, schließlich mit einem Düsenrucksack in den Weltraum entschwebt, aus den Sternen auf die Welt stürzt und in einem anderen Körper Jahre später in einem Sanatorium wieder aufwacht. Zu Beginn springt er im Foyer des JAK auf eine Tonne und bittet das Publikum zur Teilnahme am 8. futurologischen Kongreß. In rotem Jackett, das Haar gebleicht, kreist er als größtes Problem der Menschheit die Überbevölkerung ein und bittet zum Tagungsort, dem Luxushotel in Costricana.

Leer ist die Bühne bis auf einen stählernen Designertisch, eine schräge Leiter in den Bühnenhimmel und einen Wasserspender, aus dem er einige Becher an die Zuschauer verteilt, um sie kurz darauf zu warnen, daß sie soeben eine Droge zu sich genommen haben. Weitere Requisiten gibt es nicht. Schäffler greift sich aus der Luft, was er braucht. Er preßt die Hand auf Mund und Nase, und das genügt, um die Gasmaske zu sehen, mit der er sich vor psychogenen Verbrüderungsdrogen schützt. „Die Realyse, die Auflösung des Realen, ist nicht mehr aufzuhalten“, zitiert Tichy seinen Futurologen-Kollegen Trottelreiner.

Schäfflers Erzählen verliert nie an Spannung und schafft ein Stück Bühnenwirklichkeit, das den ganz realen Jugendlichen im Publikum neben einigem Spaß auch eine Menge Nachdenklichkeit beschert.

jk

„Zu Hilfe! Zu Hilfe! Sonst bin ich verloren!“ im Schauspielhaus

Wer den Inhalt der Zauberflöte nicht auswendig kennt, der ist bei Herbert Wernickes Adaption für einen Tenor leicht angemeiert. Zwar ist ein Blatt mit der Inhaltsangabe verfügbar, aber in der eineinhalbstündigen Aufführung wird doch nur der Kundige wirklich unterhalten. Christoph Homberger, der alle Rollen spielt und singt, verwendet zwar für jeden Charakter einen eigenen Dialekt oder Akzent (Tamino amerikanisiert, Pamina französelt, Papageno spricht etwas Süddeutsches und die Damen der Königin der Nacht schweizern), aber das freimaurerisch beeinflußte Liebesdrama bleibt in dieser Form doch ein arg zerdehnter Bildungsbürgerscherz.

Trotz vieler intelligenter Regieeinfälle, die mit dem Allerwenigsten das Wichtigste darstellen (Feuerzeug, Zigarettenetui und Aschenbecher bilden Zauberflöte, Glockenspiel und Krone) erschöpft sich die Grundidee doch schon nach Minuten. Auch sängerisch geht es mehr um Witz als um Klasse, nicht nur wenn Homberger die Arie der Königin der Nacht mit Kopfstimme und Sarastros Basspartien tonlos grummelt. Dadurch, daß er alle komödiantischen Register ziehen kann, stiftet Homberger zwar immer wieder kleine Highlights, die den Abend vorm Abdanken bewahren, aber mehr als harmlos-nette Kost bietet diese Late Night den Theater-Nachtschwärmern keinesfalls. tlb