Sanssouci
: Nachschlag

■ „Rolling/Kids“ von Achim Freyer in der Volksbühne

Bei der Uraufführung von Achim Freyers „Rolling/Kids“ in der Volksbühne hätte irgend jemand dem Publikum die rote Karte vorhalten sollen. Ungeduld und laute Nörgelei im Auditorium haben Freyers „Rolling/Kids“ die Atmosphäre geraubt. Freyer arbeitet mit Bildern. Und wie können Bilder wirken, wenn Zuschauer Regieanweisungen erteilen?

Zwei Männer unterhalten sich, aber sie reden nicht miteinander. Sie sprechen vorbei, gucken sich dabei nicht an. „Dialog“ heißt Freyers erste Szene, und das ist gelogen. Worte werden gesprochen im immer gleichen Tonfall. Worte, die zum Repertoire jeder „Tagesschau“ gehören. Verwüstet, Blut, taub, Schmerz, Foto: Thomas Seufert/Sequenz

Asche, verloren, Leben. Keine Action, kein Deklamieren, keine großen Gesten. Vor allem: keine Requisiten. Nur Worte. Freyer zwingt zum Zuhören. Zweiter Akt, die Bühne bleibt gleich. Nur heller. Und Bewegung. Zehn Menschen stolzieren von hinten links nach vorne rechts. Verschwinden und tauchen wieder auf. 60 Minuten lang, die rechte Hand krampfig gespreizt und Masken dort, wo Gesichter sein sollen. Seltsame Masken. Die Frauen toupiert à la Doris Day, die Männer schwarz getollt, breites Lachen. In weiße Anzüge gezwängt, laufen sie, als hätten sie einen Kurs in einer Mannequinschule belegt, erste Stunde. Sie laufen und laufen und laufen. Bis die Maskenhaare rot, die Maskenvisage gelb werden. Aus dem Off ertönt eine samtweiche Männerstimme und flauschige Pianobarmusik. „Rolling“ hat Freyer diese Szene getauft, aber es bewegt sich nichts, weil alle sich gleich bewegen. Nach 33 Minuten und 16 Sekunden, wie die Videouhr zeigt, wird die erste Maske durch eine Affenfratze ausgetauscht. Der Gleichschritt hat ein Ende. Immer mehr Affenmasken zeigen sich, bis es zehn sind. Später tragen die Weißen wieder ihre sterilen Grinsegesichter und flanieren weiter. Freyer, der Maler, Bühnenbildner und Theatermacher, konterkariert das platt Bedeutungssschwangere, das diese Bilder haben könnten, durch den Faktor Zeit. 60 Minuten sind eine kleine Ewigkeit.

„Kids“ nennt sich Szene drei, besser wäre: Affenhaus. Schwarzer Bühnenraum, schwarze, dick wattierte Männer. Jeder sitzt, steht, liegt so bequem es eben geht. Wie irre drischt einer auf Stahl ein, zehn Minuten lang melodiöser Höllenlärm. Dann Stille. Was jetzt auf der Bühne passiert, passiert in jedem Zoo: Orang-Utans gleich, tun die Kids nichts. Hinhocken, Hände reiben, die Beine nach oben strecken, abrollen, sich gegen die Wand schmeißen, erwartungsvoll in der Hocke den Arsch wippen, sich gegenseitig am Kopf reißen, bis Blut fließt. Die einzige Lampe zertrümmern. Es ist finster. Und wir hören ein Herz pumpen. Und pumpen und pumpen und pumpen. Wer lebt da? Thorsten Schmitz

Nächste Aufführung: morgen, 19.30 Uhr, Volksbühne am Rosa- Luxemburg-Platz, Mitte.