VW-Idee macht Schule

■ Bündnis 90/Grüne wollen "radikale" Arbeitszeitverkürzung im öffentlichen Dienst - und das ohne vollen Lohnausgleich

Die Viertagewoche, die beim VW-Konzern ab 1. Januar gilt, könnte als Modell dienen, wenn Anfang nächsten Jahres die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst beginnen. Die Fraktion Bündnis 90/Grüne forderte gestern eine „radikale Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit“. Durch eine „sozialverträgliche Umverteilung“ solle ein weiterer Stellenabbau vermieden werden.

Seit 1991 sind 9.200 Stellen im öffentlichen Dienst abgebaut worden. Bis Ende der Legislaturperiode werden es noch mal 25.000 Stellen weniger sein, davon 3.500 im kommenden Jahr. Angesichts einer Arbeitslosenzahl von 201.400, kritisiert das Bündnis 90/ Grüne, bewege sich die Verringerung der Beschäftigtenzahl im öffentlichen Dienst „jenseits gesellschaftspolitischer Verantwortung“. Die haushaltspolitische Sprecherin der Fraktion, Michaele Schreyer, verlangt vom Land Berlin eine Offensive für Arbeitszeitverkürzungen im öffentlichen Dienst. Kommt eine bundesweite tarifliche Regelung nicht zustande, sollten in Berlin „andere Möglichkeiten unterhalb dieser Schwelle gesucht werden“. Dem Bündnis 90/ Grüne sei klar, daß eine Arbeitszeitverkürzung „nur durch realen Einkommensverlust“ möglich sein wird. Ein voller Lohnausgleich für alle, erläuterte Schreyer den Bruch mit der bisherigen Grünen-Programmatik, sei nicht finanzierbar. Deshalb müsse darauf geachtet werden, daß die Einkommen für die unteren Lohn- und Tarifgruppen nicht gesenkt werden.

Das Bündnis 90/Grüne hält den Landeshaushalt für verfassungswidrig. Der Etat, der Ende dieser Woche vom Abgeordnetenhaus beschlossen wird, weist eine Nettoneuverschuldung von 7,4 Milliarden Mark aus, denen investive Mittel von 6,24 Milliarden Mark gegenüberstehen.

Wie Schreyers Kollege Arnold Krause erklärte, werde zur Zeit geprüft, inwieweit seine Fraktion alleine auf dem Weg der Organklage an das Verfassungsgericht herantreten kann oder inwieweit eine „abstrakte Normenkontrollklage“ eingereicht werden muß. Diese kann nur von einem Viertel des Abgeordnetenhauses erhoben werden. Das Bündnis 90/Grüne sieht sich zu dieser Prüfung veranlaßt, weil letzte Woche eine Organklage der FDP gegen den Haushalt 1993 abgewiesen wurde.

Das Bündnis 90/Grüne will nicht nur den Richterspruch abwarten, sondern machte gestern eigene Sparvorschläge. So könnten nach Ansicht der Grünen bei der Polizei 45 Millionen Mark gestrichen werden, wenn dort, wie im übrigen Bundesgebiet üblich, die Pausen nicht mehr auf die Dienstzeit angerechnet würden. Weitere 16,6 Millionen Mark ergäbe eine Verrringerung der Schichtdienste von zwölf auf acht Stunden. Diese Verkürzung der Dienstzeit hatte bereits der Landesrechnungshof empfohlen, sie scheiterte jedoch am Widerstand der CDU-Fraktion.

In der Baupolitik tritt das Bündnis 90/Grüne für eine stärkere Förderung des sozialen Wohnungsbaus ein. Auf dem ersten Förderweg sollen 1994, nach ihren Vorstellungen, 8.000 statt, wie vom Senat geplant, 5.500 Wohnungen gebaut werden. Die daraus resultierenden Mehrausgaben wollen sie zum einen durch eine Reduzierung der Wohnungszahl des zweiten Förderweges von 9.500 (Senatsplanung) auf 3.000 erreichen, zum anderen durch die Streichung der Eigentumsprogramme in Höhe von 36,6 Millionen Mark und der Fördermittel für den Dachgeschoßausbau in Höhe von vier Millionen Mark. Zu einer insgesamt positiveren Bilanz als der Senat kommt das Bündnis 90/Grüne allerdings nur, weil es eine 20prozentige Minderung der Baukosten in seine Rechnung einstrickt, weil diese, so ihre Begründung, 56 Prozent über Hamburger Niveau liegen. Dieter Rulff