■ Die Liberalen vor der Mutprobe in Sachsen-Anhalt
: Absturz Ost

Angleichung der Lebensverhältnisse – auf West- Niveau – lautet seit dem Einheitsjahr die allfällige Forderung deutsch-deutscher Einigungspolitik. In Sachsen-Anhalt haben vier ministerielle Aufbauhelfer unter Beweis gestellt, daß sich, mit ein bißchen Phantasie und Witz, die schon als illusorisch abgetane Idee durchaus realisieren ließe. Selbst West- Niveau plus x war in Sachsen-Anhalt machbar. Doch von Anfang an gab es auch Zweifel an der Verallgemeinerungsfähigkeit des Magdeburger Modellversuchs. Die finanzielle Ausgleichsmaßnahme gegen den Politikverdruß der vier Kabinettsmitglieder drohte den Politikverdruß der restlichen Bevölkerung noch zu steigern. So wurde am Wochenende das erfolgversprechende Pilotprojekt abgebrochen. Schade eigentlich.

Jetzt steht in Magdeburg das liberal-konservative Regierungsprojekt zur Disposition. Ein wenig zu populistisch trommelt die SPD gegen die „Lügenregierung“ und für den „ehrlichen Neuanfang“. Den jedenfalls will die Union mit allen Mitteln verhindern. Nur, die Mittel liegen bei der FDP. Die hat jedoch bereits seit längerem angedeutet, daß sie an einem Koalitionswechsel interessiert wäre. Immerhin, für die Liberalen geht es, wieder einmal, ums Überleben. Nach der glücklosen Liaison mit Gerd Gies, dann Werner Münch birgt noch ein weiterer Versuch, diesmal unter Christoph Bergner, erhebliches Risiko. Denn bis zu den regulären Wahlen im Herbst 94 könnte der schöne liberale Halle-Genscher-Bonus aus dem Einheitsjahr längst unter die Fünfprozentschwelle geschrumpft sein. Hingegen könnte die FDP jetzt noch darauf spekulieren, sich mit der Forderung nach Neubeginn, sprich: Neuwahlen, der Magdeburger Mitverantwortung zu entziehen. Genau diese Chance bleibt der Union verwehrt. Sie muß auf Fortsetzung der Koalition drängen, um die sichere Niederlage wenigstens noch ein weiteres Jahr hinauszuschieben. Wie sich auf dieser programmatischen Minimalbasis bei diametral gegenläufiger Interessenlage der Partner noch einmal eine liberal-konservative Koalition organisieren ließe, bleibt dennoch unerfindlich.

Das schafft Unruhe, nicht nur in Magdeburg. Der Koalitionsschlamassel jedenfalls kommt für die Bonner Koalitionäre zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Die Popularität der Regierung geht, allen Umfragen zufolge, steil nach unten. Erstmals seit 1989 deutet vieles darauf hin, als müsse Helmut Kohl bald schon die lange aufgeschobenen Rechnungen begleichen, für die Nivellierung seiner Partei wie für die längst perspektivlos gewordene Einheitspolitik. Heitmann, Stoiber, Magdeburg – kein Mangel an Zeichen des Niedergangs. Schon mimt die FDP, deren untrüglicher Überlebensinstinkt einem neuerlich Respekt abverlangt, verstärkt Eigenprofil. Doch bislang kokettiert sie eher mit der Möglichkeit des dosierten Koalitions-Affronts, als daß sie ihn wirklich wagte. Absage an den Lauschangriff, Festhalten an der Hamm- Brücher-Kandidatur, das alles wirkt eher als Drohung an die Konservativen und keinesfalls endgültig. Schlagartig ernst zwischen den Bonner Partnern würde es allerdings mit der Aufkündigung der Magdeburger Koalition werden. Denn einen deprimierenderen Auftakt fürs große Wahljahr als einen Absturz Ost in Sachsen-Anhalt könnte die FDP Helmut Kohl kaum besorgen. In Magdeburg fällt eine weitreichende bundespolitische Entscheidung. Eine echte Mutprobe für die Liberalen. Matthias Geis