Warten auf Walsers Aidsroman

Am Totensonntag hatte die Berliner Aids-Hilfe zur Diskussion über Aids-Kunst geladen  ■ Von Dorothee Winden

„Es ist das Manko der Homosexuellen, daß sie immer unter sich bleiben“, sagte Literaturkritiker Tilman Krause und traf damit ins Schwarze. Die Berliner Aids-Hilfe hatte am Totensonntag zum Talkbrunch geladen und fragte schwule Kunstproduzenten: „Brauchen wir eine Aids-Kultur?“ Es wurde – niemand hatte etwas anderes erwartet – ein Familientreffen. Am Ort konnte es nun wirklich nicht liegen. Das Foyer des Theaters des Westens bot einen erhabenen Rahmen. Sogar ein Engel erschien auf der Empore und stimmte ein Lied an. Daß das bürgerliche Publikum, das sonst durch diese Hallen wandelt, der Diskussion ferngeblieben war, spiegelt zweierlei.

Zum einen das Desinteresse der heterosexuellen Mehrheit an einer Auseinandersetzung mit Aids, zum anderen die mangelnde Reichweite der in Deutschland bisher ausschließlich von Schwulen produzierten Aids-Kunst. „Deutsche Kulturschaffende haben grundsätzlich Probleme, auf gesellschaftliche Probleme zu reagieren“, lautete die Generalkritik von Tilman Krause. „Wir brauchen auch Beiträge von heterosexuellen Künstlern“, forderte er. Warten wir also darauf, daß Martin Walser einen Aidsroman schreibt?

Darauf könnte man wirklich gespannt sein. War doch bislang vor allem Betroffenheit der Motor für die Produktion von Aids-Kunst. Es ging in erster Linie um die schwule Bewältigung von Trauer, Schmerz und Verlust. Und hier liegt eine der Ursachen für das ausgesprochene Nischendasein des Genres. Solange Aids-Kunst nur schwule Aidskranke und schwule Befindlichkeiten im Blick hat, ist es wenig überraschend, daß sich Heterosexuelle kaum dafür interessieren.

„Wir müssen weg von der reinen Dokumentation des Sterbens. Das kennen wir ja mittlerweile“, forderte Krause und bemängelte, daß Aids bisher nicht in größere gesellschaftliche Zusammenhänge eingebettet worden ist. „Das ist mein Kriterium für gute und schlechte Kunst.“ Durch Aids habe sich beispielsweise das gesellschaftliche Klima gegenüber Sexualität – ganz gleich ob homo oder hetero – gewandelt. Doch dies werde genausowenig thematisiert, wie die Verhaltenszwänge, denen junge Schwule ausgesetzt sind, die ihr Coming-out in Zeiten von Aids erleben. Auch fehle ein Roman, der die Suche nach Selbstverwirklichung und die sexuelle Befreiung in den 80er Jahren analysiert, die durch Aids jäh unterbrochen wurde.

Es ist wichtig, daß sich Kultur mit Aids auseinandersetzt – soweit war man sich einig. Doch ob das Etikett Aids-Kunst Sinn macht, daran zweifelte zumindest Tilman Krause. „Aids-Kultur ist unergiebig“, so sein Verdikt, nachdem er sich das Festival zu Aids-Kultur angesehen hat, das in diesem Sommer als Kulturprogramm der Internationalen Aidskonferenz in Berlin zu sehen war. „Das label Aids-Kultur zieht Trittbrettfahrer in einem Maße an, das der Auseinandersetzung mit Aids nicht dienlich ist.“

Das label zementiert auch das Nischendasein. „Wenn Literatur gut ist, hat sie es nicht nötig, sich einem sehr eingeschränkten Publikum anzudienen“, meint Krause. Und holt zu weiterer Kritik aus. Ihn stört der „anklägerische Gestus“ vieler Filme, in denen Betroffene die Gesellschaft für ihr Schicksal verantwortlich machen. „Ich vermisse in der gesamten Diskussion um Aids die Stimme derer, die das Problem der individuellen Verantwortlichkeit thematisieren.“ Die gesamte Debatte sei von politischer Korrektheit dominiert und leide darunter, daß man nur noch nach strategischen Gesichtspunkten über Aids redet. „Was der gemeinsamen Sache nicht dienlich ist, wird nicht thematisiert.“ Da gebe es „viele Tabus und Denkverbote“, die von Aids-Aktivisten aufgestellt würden. Deshalb findet Krause Aids-Kultur „langweilig“.

Eines der Tabuthemen, das er aufwarf, ist die Frage nach der Schuld. Er kenne viele Schwule, deren Schuldgefühle durch die Krankheit noch verstärkt worden seien. „Das kann man nicht so einfach vom Tisch wischen und sagen, die sind eben nicht emanzipiert genug.“ Bei den Künstlern stieß er damit auf entschiedenen Widerstand. „Wir erleben ja gerade mit dem Blut-Aids-Skandal wieder, wie Aidskranke in Schuldige und Unschuldige unterteilt werden“, entgegnete Filmemacher Wieland Speck und warf noch ein politisch korrektes „Alle Aidsopfer sind unschuldig!“ hinterher. Dem hielt Krause entgegen: „Wer sich jetzt noch infiziert, ist selber schuld.“

Der Widerstand ist verständlich, will man sich doch von den Heterosexuellen nicht das Thema Schuld aufzwingen lassen. Er zeigt aber zugleich einen Mangel an Souveränität. Indem man (zurecht) den Vorwurf abwehrt, daß Homosexualität als solche und die Krankheit speziell etwas Schuldhaftes seien, entzieht sich die schwule Öffentlichkeit der Auseinandersetzung mit den tatsächlich vorhandenen Schuldgefühlen. Den Kranken, die sich damit herumschlagen, ist nicht damit geholfen, daß das Thema zum Tabu erklärt wird.

Kunst müsse auch das Symbolische von Aids herausarbeiten, forderte Krause, der noch eine Provokation auf Lager hatte: „Aids hat einen Sinn.“ Viele Kranke hätten ihm gegenüber geäußert, daß ihnen erst die Krankheit einen möglichen Sinn ihres Lebens deutlich gemacht hätte. „Aber zu welchem Preis!“ erwiderte Napoleon Seyfarth wütend. „Aids ist eine sinnlose Krankheit.“ Für den Autor von „Schweine müssen nackt sein“ war das Schreiben „eine Bewältigung der eigenen Ängste vor dem Tod. Ich habe den eigenen Tod vorerlebt, ich habe ja in dem Buch meine eigene Todesszene beschrieben. Ich lag auf dem Schreibtisch und dachte erst, ich kann es nicht.“

Andere wiederum hoffen, daß Aids-Kunst eine Lobby für die Aidskranken werden kann, daß sie um Verständnis und Mitgefühl mit den Aidskranken wirbt. Und daß die Krankheit in der Kunstform auch eine breite Öffentlichkeit erreicht – Hoffnungen, die noch nicht eingelöst sind.

„Die Gesellschaft hat sehr gestört auf die Krankheit reagiert und tut es immer noch“, konstatierte Wieland Speck. Und Theaterregisseur Dirk Cieslak mochte auch aus der Tatsache, daß der Aids-Blut-Skandal das Thema jetzt wieder stärker in die Medien bringt, keine Hoffnung schöpfen: „Die jetzige Panik um Blutplasma hat nichts Aufklärerisches.“ Für ihn lautet die Botschaft der Aids- Kunst: „Guck's dir an, setz dich damit auseinander und weiche nicht aus.“

Den Heterosexuellen die Verdrängung zu erschweren und sie zu einer Auseinandersetzung mit Aids herauszufordern, kann aber nicht nur Aufgabe von schwulen Künstlern sein.