„Ich fasse das Leid nicht“

Erinnerung an Ernst Toller – Dichter, Dramatiker, Pazifist und Revolutionär – zum 100. Geburtstag  ■ Von Christa Dericum

Die Glücksmöglichkeiten sozialer Revolutionen sind gering. Selten rührt Dichtung an den „Schlaf der Welt“, wie Oskar Maria Graf erwartete. Ernst Toller beklagte die „spröde Materie“ der Worte, und doch hielt er die Sprache für das einzige Mittel gegen Brutalität und Seelenlosigkeit.

Jedoch: Das stetige Bohren nach Gründen fördert nichts zutage als Scham und Verwirrung, schrieb Toller 1921; es gibt keinen Grund außer der eigenen Entscheidung. Was entscheidet der einzelne, und was die vielen? Das still dasitzende Kind, freudlos in strengem, gutbürgerlichem Milieu aufgewachsen, antwortete auf die Frage der Mutter, was es denn tue: „Ich atme!“ Der junge Jura-Student in Grenoble zog als Freiwilliger in den Krieg; er wollte Deutscher sein, „nur Deutscher“. Später meldete er sich bei der jüdischen Gemeinde seiner Heimatstadt ab.

Die Erlebnisse an der Front des Ersten Weltkrieges ließen ihn nie mehr los, die falsche Entscheidung wurde zum Signal. Wie konnten sie das aushalten, Menschen wie etwa sein Heidelberger Lehrer, jener Professor Max Weber, der einst als „Kathedersozialist“ geschmäht worden war, intelligente, hilfsbereite Freunde, nun von Haß und Feindschaft verzehrt?

„Ich fasse das Leid nicht, das der Mensch dem Menschen zufügt. Sind die Menschen von Natur so grausam, sind sie nicht fähig, sich hineinzufühlen in die Vielfalt der Qualen, die stündlich, täglich Menschen erdulden?“ Ernst Tollers Entscheidung hieß Pazifismus. Dichtung und Politik gehörten für ihn von nun an zusammen. Später sagte er, wenn ihn ein Stoff gepackt habe, seien Geist und Seele davon besetzt, er ergreife aber auch von seinem körperlichen Leben Besitz. Max Weber soll dazu gesagt haben, Gott habe in seinem Zorn Ernst Toller zum Politiker geschaffen.

Er wehrte sich gegen das Etikett. Er war ein Dichter, ein Dramatiker, dessen Stücke die Fragen der Zeit stellten. Hatte nicht auch Dante politisch argumentiert und denjenigen, die er für Feinde seiner Ideen hielt, die Hölle angeboten? Mit Martin Buber, Gustav Landauer, Erich Mühsam suchte er nach neuen Lebensformen jenseits der vorgegebenen Strukturen von Kapitalismus, Militarismus, religiösem Dogmatismus. Schon solche Schlagworte waren ihm zuwider. Es ging um Sozialismus, das stand außer Zweifel. Aber weder das alte Regime, von dem im 19. Jahrhundert der französische Historiker Alexis de Tocqueville schon gesagt hatte, es sei an sich selbst zugrunde gegangen, noch die von neuen Parteien etablierten Machtgebilde waren intendiert. Solange der Mensch Macht über einen anderen Menschen hat, ist er schuldig, hatte Gustav Landauer gesagt.

Tollers Beteiligung an der Räterepublik, 1919 in München, stellt unausweichlich die Frage nach Macht und Gewalt: „Muß der Handelnde schuldig werden, immer und immer? Oder, wenn er nicht schuldig werden will, untergehen?“ Die Verzweiflung der Entscheidung für oder gegen die Bewaffnung der „Arbeiter“ (es waren Bauern, Handwerker, Intellektuelle darunter) verzehrte ihn. Toller entschied für die Bewaffnung in letzter Minute, aussichtslos, angefeindet auch von den eigenen Streitern, verleumdet am Ende. Als der ungleiche Kampf entschieden war, unter den vielen Ermordeten der Schriftsteller Gustav Landauer, konnte Toller seine Verurteilung zu fünf Jahren Haft durch die „Revolutionäre von heute“ nur als „Urteil der Macht“ hinnehmen.

Das Volk wußte, was es nicht wollte, aber es wußte nicht, was es wollte, schrieb er. In der Gefangenschaft entstanden die großen Dramen „Masse Mensch“, „Hoppla, wir leben“, Spiegelbilder eines Deutschland in sozialer und geistiger Verwahrlosung, von politischer Verblendung und brutaler Machtbehauptung geprägt.

Lion Feuchtwanger stellte in seinem Romanzyklus „Der Wartesaal“ später die Frage, die die Schriftsteller der Räterepublik bewegte: Warum ertragen, warum so lange warten, warum der Herrschaft der Gewalt und des Terrors und Widersinns kein Ende machen? Ernst Toller setzte auf Beharrlichkeit. Die Schwalben, die in seinem Gefängnisfenster nisteten, wurden auf Befehl von rohen Händen entfernt, sie nisteten woanders, immer wieder an anderen Stellen. Toller schrieb ihnen sein schönstes Gedicht, das „Schwalbenbuch“ mit ihnen leidend an Einzelhaft, Bettenentzug, Kostentzug, Schlafentzug, Hofverbot, Schreibverbot, Sprechverbot, Singverbot, Leseverbot, Lichtverbot, Zwangsjacke.

Die Gefangenschaft dauerte „hundert Jahre“ oder mehr, man weiß es nicht. Toller sah die Katastrophe des Nationalsozialismus schon wirksam in seiner Zelle, er sah die Zersplitterung der Linken, die Lethargie der Masse, die nicht erzogen war, für sich zu sprechen. Er schrieb und redete. Die Weimarer Republik hatte mit diesem Unbeugsamen zu rechnen.

Wo immer er auftrat, forderte er das Recht der Gequälten, Widerstand gegen Terror und gegen die Begrenzung von Freiheit. Seine eindrucksvolle Rede auf dem XI. Internationalen P.E.N.-Kongreß in Dubrovnik 1933, an dem er als Mitglied der englischen Delegation teilnahm, sprach für die Autoren in Deutschland, die nicht frei reden durften: „Wahnsinn beherrscht die Zeit, Barbarei regiert die Menschen. Die Luft um uns wird immer dünner. Täuschen wir uns nicht, die Politiker dulden uns nur und verfolgen uns, wenn wir unbequem werden. Aber die Stimme der Wahrheit war niemals bequem ... Überwinden wir die Furcht, die uns erniedrigt und demütigt ... In uns allen lebt das Wissen um eine Menschheit, die befreit ist von Barbarei, von Lüge, von sozialer Ungerechtigkeit und Unfreiheit.“

Im Exil glaubte der stets helfende, freundliche, gütige Toller, auch Diktatoren hätten Ohren zu hören. Doch die Wirklichkeit sah anders aus: Seine Freunde Carl von Ossietzky, Erich Mühsam ermordet, der Krieg vor der Tür. Er war nicht der einzige, den die tristesse du coeur umbrachte.