Tschechien, der „ungeschützte Raum“, die Zivilisation und die Nato

■ Beim Gipfel des Bündnisses im Januar 1994 will Prag bei den Anwärtern auf Mitgliedschaft in der ersten Reihe stehen

Prag (taz) – „Wir sind glücklich der selbstmörderischen Umarmung des Warschauer Paktes entkommen, gleichzeitig aber in einen freien, ungeschützten Raum gelangt“, schreibt die Zeitung Lidové Noviny. Ohne Zweifel gibt man sich in Tschechien schon jetzt größte Mühe, beim Nato-Gipfel im Januar 1994 die erste Geige unter potentiellen Neumitgliedern zu spielen. Stolz klopfen sich Prags Politiker auf die Schultern: Die politische Stabilität des Landes sei – im Gegensatz zu einigen postkommunistischen Nachbarstaaten – der Schlüssel zu den Toren der Abwehrallianz.

Ursprünglichen Zielen zum Trotz, nämlich die Nato-Diskussion nicht ohne Absprache mit den Vycheradstaaten – neben Tschechien die Slowakei, Ungarn und Polen – zu führen, ist der tschechische Verteidigungsminister Antonin Baudys nun davon überzeugt, daß eine „Koordination unter diesen Staaten nicht notwendig ist“. Jedes Land habe seine eigene Entwicklung und Voraussetzung. Baudys ist gegen „flächendeckende, unspezifische Lösungen“.

Im Außenministerium ist man über diese Einstellung nicht gerade erbaut, möchte Baudys aber offensichtlich nicht in den Rücken fallen. Fast entschuldigend führt Pavel Vacek, Leiter der Abteilung für Sicherheitspolitik, in einem Gespräch mit der taz an, daß Tschechien „die Vycheradstaaten ja auch nie als Verteidigungsbündnis gesehen hat“. Die letzten Ereignisse in Rußland hätten „bestimmte Instabilitäten“ gezeigt, Risiken könne man nicht ausschließen. Vacek möchte diesen Aspekt jedoch nicht so betonen wie Baudys.

Dieser begründet die Dringlichkeit für Tschechien, Mitglied der Nato zu werden, so: „In den USA herrscht die Ansicht, daß der Kommunismus überwunden ist und aus dem Osten keine Gefahr mehr droht. Doch das ist Illusion.“ In Anbetracht der Wahlergebnisse in Polen wisse niemand, wie sich Rußland und die Ukraine weiterentwickeln würden. Baudys Bedrohungsszenarium wird von den Medien untermalt. Lidové Noviny verweist beispielsweise auf mögliche Exzesse des Minderheitenkonflikts zwischen Ungarn und Slowaken an der Südgrenze der Slowakei. Auch wenn dort nichts passiere, so das Blatt weiter, erfordere die Sicherheit Tschechiens den Schutz durch die Nato.

Armee wird abgebaut

Im Widerspruch zu der unterschwelligen Panikmache steht die Tatsache, daß Tschechien seine Armee bis 1996 auf 65.000 Soldaten reduzieren möchte – allerdings weicht man im Prager Verteidigungsministerium der Frage aus, ob dieses auch für den Fall einer möglichen Nichtmitgliedschaft in der Nato gilt.

„Die Nato bietet politische Kooperation und Koordination. Das steht bei unseren Bestrebungen um eine Mitgliedschaft zunächst einmal im Vordergrund“, sagt Pavel Vacek. Als Vertreter des Außenministeriums könne er nur auf die Worte des Präsidenten verweisen. Václav Havel hat sich gegenüber der New York Times, wie bereits unlängst vor den Abgeordneten des Parlaments, mit der Frage beschäftigt, warum sich die Nato Mitteleuropa öffnen solle. „Unser Bemühen, uns in die Allianz einzureihen, geht auch aus dem Willen hervor, eine Mitverantwortung zu übernehmen“, sagte Havel. Tschechien habe schon immer in den westeuropäischen Zivilisationskreis gehört und teile die Werte, auf denen die Nato beruhe. Havel: „Wir fühlen uns sogar als deren Mitschöpfer.“ Nicht zuletzt räumte Havel ein, daß die Nato mit Ende des Kalten Krieges ihre „strategischen Gegner verloren habe“. Das mache sie jedoch nicht überflüssig. Eine ihrer Hauptaufgaben sei es, „in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen Freiheit, Recht und Demokratie, die durch lokale Konflikte bedroht sein könnten, in unmittelbarer Nähe der Nato-Mitglieder zu schützen“.

Im oppositionellen Linken Block Tschechiens wächst unterdessen Kritik. Sprecher Jaroslav Ortmann forderte erneut, daß „über eine Eingliederung der ČR in die Nato nicht die Abgeordneten, sondern die Bürger mittels Referendum entscheiden sollen“. Und auch darüber ist man sich in Prag im klaren: Eine Mitgliedschaft kostet Zeit und Geld. Unabhängig von den Gipfelgesprächen im Januar wäre Tschechien aufgrund seiner völlig veralteten Armee erst Ende der 90er Jahre imstande, der westlichen Allianz beizutreten. Tomas Niederberghaus