Politisches Theater haben sie satt

„Theater nach der Diktatur“ – Neuanfang nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion  ■ Von Dina Goder

Am Montag ist die Projektwoche „Theater nach der Diktatur“ in der Berliner KulturBrauerei zu Ende gegangen. In Dresden wird die Veranstaltungsreihe jetzt bis 6. Dezember wiederholt. Die Organisatoren von der Theaterbande e.V. wollten einen möglichst umfassenden Eindruck von der alternativen, neo- avantgardistischen russischen Theaterlandschaft nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vermitteln. Dazu haben sie Theatergruppen aus Moskau („Tschot- Netschet-Theater“), Vilnjus („Oskaras-Theater“), Kiew („Ukrainskaja Robitnja“) und St. Petersburg („Derewo“) eingeladen. Auch Vertreter der jüngeren Generation von Theaterkritikern kamen zu Wort. Dina Goder, Theaterkritikerin der Moskauer Zeitschrift „Teatr“, gab in ihrem Vortrag, der hier in gekürzter Fassung abgedruckt wird, einen Überblick über Entwicklung und gegenwärtige Situation des alternativen russischen Theaters.

Gleich zu Beginn der Perestroika entstand in sehr kurzer Frist eine Unmenge von Studiotheatern. Das war wie eine Explosion. Sie schienen auf unbestelltem Boden zu wachsen wie Pilze. In Wirklichkeit existierten die meisten von ihnen auch schon früher – in Form von Theaterzirkeln in Klubs, an der Universität usw. Aber erstmals ergab sich die Möglichkeit der breiten Präsentation vor dem Zuschauer, und seit geraumer Zeit auch des Verkaufs von Eintrittskarten. Wirklich bekannt wurden unter ihnen nur einige wenige. Gewohnheitsgemäß nannten sie sich Studio, in Anlehnung an einige Bestrebungen in der russischen Theatergeschichte, obwohl weder Lehrhaftes noch Experimentelles in ihnen passierte. Die bekanntesten Studios seinerzeit in Moskau waren das Studiotheater unter Leitung von Oleg Tabakow, das einem Studienjahr des „Gitis“ (Moskaus älteste und renommierteste Theaterakademie, d. Red.) entsprang und quasi als gewöhnliches Staatstheater auch Zuschüsse bekam, und das Laientheater „Studio Jugo-Sapadnaja“ von Waleri Beljakowitsch, dessen Existenz von der Stadtgebietsverwaltung gesichert wurde. Fast alle übrigen Studios waren reine Laienunternehmen, obwohl der größte Teil der Regisseure Profis waren.

Von 1986 bis 1989 wurde im Klub des Instituts für Energetik ein Festival des Studios „Spiele in Lefortowo“ durchgeführt. Eine Gruppe junger Theaterkritiker sah sich die eingereichten Inszenierungen der Moskauer Studios an und wählte etwa ein Dutzend für das Festival aus. In Theaterkreisen waren die führenden Leute bereits bekannt. Es waren vorwiegend Profis, von denen einige sogar gleichzeitig in Staatstheatern arbeiteten. Das Festival hörte auf zu existieren, als klar wurde, daß die Leute jedes Jahr die gleichen waren. Parallel dazu wurden Festivals des neuen – vorwiegend Moskauer – Theaters auch außerhalb Moskaus durchgeführt. Diese Festivals bemühten sich um eine Synthese, indem sie auch Ausstellungen von Malern und Fotografen einschlossen, ebenso Filmvorführungen, Auftritte von Avantgardedichtern und Musikern. Nach und nach ebbte die Studio-Bewegung dann aber ab. Es kam die Zeit der Profis. Die Bezeichnung „Studio“ ist heute aus der Mode gekommen. Neue Theater nennen sich einfach „Theater“ oder „Gruppe“ oder „Workshop“.

Das künstlerische Programm des „neuen“ Theaters läßt sich ebensowenig eindeutig beschreiben wie seine ökonomische Existenz. Nur eines kann man mit Bestimmtheit sagen: Politisches Theater gibt es bei uns heute nicht. Die Leute haben das von den vergangenen Jahren her absolut über. Sozialbezüge gibt es nur noch rudimentär, per Parodie. Oder sie erscheinen als konzeptuelles Zitat des vergangenen großen Stils.

Das neue Theater, das ist vor allem der neue Schauspieler. Für den Regisseur bekommt der lebendige Mensch, der sich jede Minute verändert, vorrangige Bedeutung. Neu an den Inszenierungen ist die meist sehr flexible Improvisationsstruktur. Das bekannteste unter den Theatern dieser Richtung ist die „Werkstatt Klims“, das heißt die von Wladimir Klimenko. Einige seiner Inszenierungen, wie etwa „Der Raum der göttlichen Komödie ,Revisor‘“, haben eine derart fließende Struktur, daß man sie mehrmals hintereinander sehen kann, ohne daß sich die Aufführungen sowohl im Detail als auch dem Sujet nach gleichen.

Generell ist der Schauspieler des neuen Theaters gewohnt, in kleinen Räumen zu arbeiten, denn er besitzt einen hohen Grad von Offenheit, von Aufrichtigkeit und Freiheit. Tatsächlich zieht es das Theater heute in nichttheatralische Räume, und der Begriff „Theateraufführung“ verliert sich nach und nach. Die Aufführungen können ohne Anfang und Ende sein, können fast einen Tag dauern. Es entsteht eine vollkommen neue Form von Theatralität.

Es gibt auch Theater, für die das literarische, das intellektuelle Element weitaus wichtiger ist. Sie arbeiten mit der komplizierten Avantgarde-Literatur. Und für sie ist das Wichtigste, eine neue szenische Sprache zu formieren, die den Texten adäquat ist. Das ist sehr schwer, denn zwar haben die Traditionen der russischen Avantgarde in der Literatur und der darstellenden Kunst tiefe Wurzeln, nicht aber die des Theaters. Und auch von der westlichen Avantgarde waren wir abgeschnitten. So daß solche Gruppen wie „Tschot- Netschet“ von Alexander Ponomarjow fast vom Nullpunkt anfangen müssen.

Ebenso schwer hat es das nonverbale Theater, dessen tragendes Element die rhythmische Körperbewegung ist, denn es gibt in Rußland praktisch kein modern ballet. Gegenwärtig sind viele mimische Theater entstanden mit clownesker Orientierung, aber sie neigen doch eher zur Pop-Show als zum wirklichen Theater. Als wichtigstes Moment des neuen Theaters erscheint mir momentan die Hinwendung zu den Wurzeln – zur Folklore, zum Mythos, zur Archaik. Diese Vorführungen haben oft den Anschein von Schamanismus. Sie wirken eher und stärker auf das Unterbewußtsein als auf das Bewußtsein. Charakteristisch für dieses Theater ist das Fehlen jeglicher Geschlossenheit und Endgültigkeit des Theaterstücks als solchem, das sich im traditionellen Sinne analysieren läßt. Möglicherweise gibt es nicht allzu viele Inszenierungen, über die man als ganzheitliche Schöpfungen reden könnte, doch zweifellos läßt sich reden über differenzierte und bestechende Regieideen und deren unerwartete Offenbarungen im Fehlen einer Ganzheit.

Aus dem Russischen von Johannes Berger