Der Geist aus der Schüssel

Vor dem Davis-Cup-Finale zwischen Deutschland und Australien entdecken professionelle Einzelkämpfer die Dynamik der Gruppe  ■ Aus Düsseldorf Cornelia Heim

„Der Egomane Becker hat dafür gesorgt, daß der Emporkömmling aus Elmshorn nie wird, was Boris schon ist – Davis-Cup-Sieger.“ Was der Spiegel am 25. Januar 1993 schrieb, könnte sich am 5. Dezember 1993 als grandiose Falschmeldung herausstellen. Michael Stich, Marc-Kevin Goellner, Patrik Kühnen und Ersatzmann Charly Steeb schicken sich an, zum dritten Mal die „häßlichste Salatschüssel der Welt“ zu ergreifen. Falls dem so ist, wird auch Michael Stich das tun, was die meisten Topspieler nach ihrem Ausflug in die Dynamik der Gruppe getan haben – sich verabschieden, um die Nummer eins der Weltrangliste zu werden. Selbst Teenie-Idol Marc-Kevin Goellner, obwohl recht neu im Team, wird sich nach dem Gewinn des Pokals, der nach eigenem Bekunden gut sei für sein Image, wieder dem eigenen „Team“ (manche reden von „Sekte“) zuwenden.

Also alles „Egomanen“? Zumindest die Ambitionierten. Erstaunlich? Im Gegenteil. Den Berliner Sportphilosophen Günter Gebauer wundert es vielmehr, daß moderne Profis „antiquiertes Denken mit seltsam archaischen Strukturen nicht über Bord werfen“. Rache und Ehre, Bestandteile einer Ethik vor der Aufklärung. Aber in Düsseldorf, wo von heute bis Sonntag das Davis-Cup-Finale gegen Australien ausgetragen wird, wieder auferstanden: Ausgefuchste Sportunternehmer beschwören den Teamgeist. Eine Mannschaft ist nicht automatisch ein Team. Es ermangelt ihr an dem Geist, der aus der Schüssel kommt. Jener Spiritus, den Gebauer als typisch für den Männersport bezeichnet. In bester burschenschaftlicher Tradition.

Selbst Professor Joseph Keul, der Mannschaftsarzt, hat den Geist beim Spaziergang mit Stich und dessen Hund entdeckt. Niki Pilic, der „Preuße vom Balkan“ und Chef des Teams, teilt die Welt gar in Gut und Böse: „Wer nicht Davis-Cup spielt, der ist für mich weniger wert. Der hat kein Gefühl für seine Nation. Der sieht nur sein Bankkonto.“ Was nicht ganz stimmt, denn auch ein Davis-Cup- Spieler kann mit einem Verdienst von einer Dreiviertelmillion nach gewonnenem Finale nette Weihnachtspräsente verschenken.

Der Teamgeist ist über uns gekommen. Und es ist nur natürlich, daß diesen sechsten Mann die Underdogs aus Australien noch mehr benötigen als die favorisierten Gastgeber. Im deutschen Team, nach dem Verlust des Geistes von Göteborg der vier Freunde Becker, Jelen, Steeb und Kühnen beim ersten Davis-Cup-Gewinn 1988, eher eine Zweckgemeinschaft geschäftstüchtiger Individualisten, will Professor Keul den Geist mitsamt seiner medizinischen Wirkung erfahren haben: „Er wirkt entkrampfend.“

Einen krampflosen Eindruck vermitteln die Australier. Mark Woodforde wirft den Ball über den Kopf, der Schläger sinkt in den Rücken, um gleich darauf dem herabstürzenden Ball entgegenzuschnellen – die Lichter gehen aus. Der Ball plumpst unberührt auf den Sand. Stromausfall in der Messehalle 14. Just als die Australier ihr Doppel trainieren. Aber der homo australicus ist wohl im besten Gedenken an Friedrich Schiller nur da richtig Mensch, wo er spielt. Mark Woodforde und Todd Woodbridge, das zur Zeit beste Doppel der Welt, der Einfachheit halber allseits die „Woodies“ genannt, nehmen die Filzkugel in die Hände. Wally Masur greift sich eines der herumliegenden Stahlrohre – der Oldie im Team (30) mimt den Schlagmann. Jason Stoltenberg, der immer so unter seiner Brille lächelt, als sei er der Musterschüler aus dem „Club der toten Dichter“, stellt sich hinter ihn. Ein Team. Ein neues Spiel: ein halbes Stündchen Cricket. Was die Australier ohnehin am liebsten im Fernsehen verfolgen (54 Prozent) – vor Tennis (47).

„Sie sehen doch, die Jungs sind gut drauf“, meint Teamchef Neale Fraser, seit 23 Jahren Kapitän, beim Plausch an der Bande, an der gerade Ion Tiriac höchstselbst die Blumenkästen neu montiert. „Wir können gewinnen, weil wir den besseren Teamgeist haben“, sagt der 60jährige, der bereits vier derartige Teams geistvoll zum Davis- Cup-Gewinn inspirierte. Und Richard Fromberg, der es heute nach dem Eröffnungsmatch Stich-Stoltenberg (14 Uhr) mit Goellner zu tun bekommt, behauptet forsch, sie hätten ohnehin die größere Portion spiritueller Gruppenenergie abbekommen. Eigentlich sind Tennisprofis keine Fußballknirpse, die in einer Mannschaft zum Kicker reifen, sondern Einzelkinder. Aussies sind anders. Ob's am „Australian Institute of Sports“ liegt, dem Tennis-Internat in Canberra, wo der Nachwuchs seit Fromberg geschult wird? „Australier sind immer im Ausland“, sagt „Frase“. Und dort ein Team.

Günter Gebauer aber sagt, der Geist sei ein Mythos. Und zitiert eine Untersuchung des Soziologen Lenk. Demnach war der Ruder- Achter am erfolgreichsten, in dem die größten Spannungen herrschten. 1:0 für Deutschland?