Der geplante Hitzetod in Frankreich

■ Die erste mutwillig herbeigeführte Kernschmelze fand mit viel Presserummel statt

Nur einen ganz kleinen Augenblick stockt den angereisten Beobachtern draußen vor dem mittelalterlichen „Chateau“, dem Gästehaus und Tagungsort des Atomforschungszentrums von Cadarache, der Atem. Punkt ein Uhr dröhnen die Sirenen vom Testgelände herüber. Die Blicke richten sich auf die sonnenüberflutete Ebene, dorthin, wo Phebus vermutet wird. Jemand fragt nach der Windrichtung. Der Alarm ruft die Beschäftigten zur Mittagspause.

Drinnen starren die Besucher den ganzen Tag über auf große Bildschirme, die abwechselnd Grafiken, Kontrollschirme in den Leitwarten oder das tiefblau schimmernde „Schwimmbecken“ zeigen, in dem Phebus, der Versuchsreaktor, strahlt. Unsichtbar bleibt sein „heißes Herz“, die zylindrische Zelle, deren gewaltsamer Hitzetod unmittelbar bevorsteht. Vom Zentrum des staatlichen französischen Instituts für Nuklearschutz und -sicherheit (IPSN) in Fontnay-Auxroses bei Paris verfolgen weitere Beobachter online die Weltpremiere einer absichtlich herbeigeführten Kernschmelze. Im Stundentakt übermitteln wechselnde Wissenschaftler den Stand der Dinge, der sich auf den Bildschirmen in träge steigenden Temperaturkurven niederschlägt.

Nicht zufällig erinnert Philipp Vesseron, der IPSN-Chef, an die inzwischen zur Routine gewordene Inszenierung der Raketenstarts auf den diversen Weltraumbahnhöfen. Hier gehe es zwar nicht ganz so spektakulär zu, aber ebenso aufregend. Für ihn sei die demonstrative Beteiligung der Öffentlichkeit auch ein Risiko. „Ich könnte mich blamieren, denn es kann notwendig werden, daß ich den Countdown unterbrechen muß“, gesteht Vesseron am Morgen. Es wird nicht notwendig. Ein Temperaturfühler, einer von Dutzenden, fällt aus. Ansonsten: keine besonderen Vorkommnisse. Gegen 15 Uhr schließlich ist es soweit. Zwar bleibt unklar, ob und wieviel des Brennstoffs geschmolzen ist. Doch als der Temperaturzenit von über 2.800 Grad erreicht ist, wird planmäßig abgebrochen. – Am Morgen hatte Alain Tattegrain, der für das Phebus-Gesamtprojekt verantwortliche Wissenschaftler, die Sicherheitsvorkehrungen, die auch sehr unwahrscheinliche Störfallpfade berücksichtigen, erläutert. Bei einer Premiere ohne Generalprobe könne dennoch vieles schieflaufen, gestand Tattegrain. Die Sicherheit der Umgebung allerdings sei durch all dies nicht gefährdet. „Einzigartig“ sei das Experiment, weil erstmals eine „echte Quelle“ radioaktiver Spaltprodukte auf Herz und Nieren untersucht werden könne. Man fahre praktisch den Gesamtablauf des Harrisburg-Unfalls von 1979 in all seinen Phasen nach, der bis heute von den Reaktortechnikern nicht vollständig verstanden werde. Nach dem Versuch hoffe man genauer zu wissen, welche Spaltprodukte im Verlauf eines Super-GAUs wann und wie frei werden. Doch genau daran bestehen Zweifel. Ob und inwieweit die Ergebnisse auf reale Atommeiler übertragbar seien, fragt ein Journalist via Satellit aus Fontanay- Auxroses. Er erhält eine merkwürdig ausweichende Antwort: Man könne verschiedenartige, in aller Welt durchgeführte Experimente vergleichen und dann auf einen größeren Maßstab hochrechnen. Eine Fehlerbreite um den Faktor 2 bleibe aber auch nach der bis Ende des Jahrzehnts vorausgeplanten Phebus-Versuchsreihe. Das 270-Millonen-Mark-Projekt, an dem sich neben Frankreich die EU (mit 30%), Japan, die USA, Kanada und Südkorea (insgesamt 15%) beteiligen, wird auch von der Bundesregierung ausdrücklich unterstützt, was ihr vor einigen Tagen eine Strafanzeige von Greenpeace einbrachte. Greenpeace-Aktivisten waren es auch, die am Mittwoch fast für einen Stopp des Countdowns gesorgt hatten, als sie unter dem Motto: „Spielt nicht mit unserem Leben“ auf das Terrain des mit Zaunkaskaden martialisch abgeriegelten Forschungsgeländes vordrangen und das Reaktorgebäude kurzzeitig besetzten.

Relativ spät, vermutlich erst nachdem der geplante Super- GAU besonders östlich des Rheins für aufgeregte Vorberichterstattung gesorgt hatte, entschlossen sich die Verantwortlichen zu ihrer spektakulären Flucht in die Öffentlichkeit. Aufgeschreckt hatte sie u.a. eine Studie der atomkritischen „Gruppe Ökologie“ in Hannover, die hinter vorgehaltener Hand von höchster Stelle als zwar interessengeleitet, aber eben auch seriös qualifiziert wurde.

Die sicherheitstechnische Problematik wurde allerdings auch von atomkritischen Wissenschaftlern wie dem Physiker Lothar Hahn vom Darmstädter Öko-Institut im Vorfeld des Experiments heruntergespielt. Schlimmer sei das „rausgeschmissene Geld“, das das Phebus-Programm bedeute. Mycle Schneider vom in Paris ansässigen „World Information Service on Energy“ hält das Experiment dennoch für ein wohlkalkuliertes Signal. Damit werde die gesamte, in 30 Jahren Reaktortechnik entwickelte Sicherheitsphilosophie umorientiert, „von Unfallvorbeugung auf Unfallmanagement“. Gefahr, fühlten sich die Wissenschaftler am Ende bestätigt, habe zu keinem Zeitpunkt bestanden. Es wurde Champagner gereicht. In einigen Monaten werden die Reste der bei dem Versuch entstandenen radioaktiven Gase über Filter in die Luft geblasen.