Schneise in die Leere

Das polnische „Theater des 8.Tages“  ■ Von Mirjam Schaub

Ein Theaterbesuch wie der nächtliche Gang durch eine Gemäldegalerie des frühen 17.Jahrhunderts.

In flackernden, gelblich-roten Kerzenschein getaucht, ähneln die Gesichter der Schauspieler Caravaggios Porträts, die Gesten ihrer Hände den Detailstudien von Georges de la Tour. Heiliger und ärmer noch, als es die Seelenverwandtschaft mit Tadeusz Kantor und Jerzy Grotowski ohnehin vermuten ließe, zeigt das polnische Ensemble des „Teatr Ósmego Dnia“ („Theater des 8.Tages“) auf wunderbare Weise, was für ein Ereignis Theater sein kann.

Das Stück „Niemandsland“ (die Uraufführung fand 1991 statt) ist in jahrelangen Improvisationsstudien im Exil in verschiedenen europäischen Staaten entstanden, nicht zuletzt unter dem Eindruck der letzten Tage des geteilten Deutschlands.

„Ich bin steckengeblieben auf dem Acker des Niemandslandes, in einer schmalen Spalte, von der manche sagen, sie wäre ein Überbleibsel gewaltiger tektonischer Zwischenräume, eine Spur des vom Norden weichenden Gletschers, ein Riß in der harten Kruste, auf die ein Riesenmeteor einschlug – ein Splitter des zerfallenden Weltalls. Einst türmten sich hier Stacheldrahtverhaue und Schilder in verschiedenen Sprachen, warnten vor dem Tod, der sowieso vermeidbar ist. Hierdurch lief die Grenze, jetzt ist es eine einfache Schneise in die Leere ohne Wegweiser.“ So beschreibt einer der vier Schauspieler, Marcin Keszycki, sein Niemandsland. Er ist derjenige, der auf der Bühne zumeist englisch spricht, verzweifelt, auf der Jagd nach dem richtigen Vermerk im richtigen Ausweis – auf daß ihm die Flucht gelingen möge.

Während er blind in die Zukunft stürmt, geht Ewa Wójciak, eine andere Marina Zwetajewa, still an ihm vorbei. Zurückgekehrt nach Jahren des Exils nimmt sie sich – im Schattenriß des Fensterkreuzes – noch einmal das Leben. Hatte nicht eben Tadeusz Janiszewski alle persönliche Tragik verboten, indem er Stalins ewig russische Weise „Moskauer Abend“, einen Foxtrott, zu dem Joseph Wissarionowitsch mit Vorliebe Männer tanzen ließ, so intoniert: „Es wird ein Massensterben geben, aber keinen Tod“?

Die Idee der Ver- und Entschachtelung der Zeit, die gleichzeitig vor- und zurückgedreht werden kann, läßt das „Niemandsland“ endgültig als einen fiktionalen Ort, eine Landschaft im Wahnsinn Tarkowskis erscheinen, die kaum betreten – immer schon wieder verlassen und verloren ist. Die ersehnte neue Welt on the other side bietet zweifelhafte Vergnügen. Sie begrüßt die Flüchtlinge mit Videokamera und Happy- Birthday-Hysterie, einer Salve Italienisch, ein paar sadistischen Brocken Deutsch. „Warum sind wir geflohen? Um den Ätna noch einmal zu sehen, die Mauern der Kathedrale von Chartres zu berühren, das Rauschen der Autobahnen noch einmal zu hören?“ fragen sich die, die ausgezogen waren, ihr Glück zu finden.

Mit den Mitteln des sogenannten armen Theaters bringt das polnische Avantgarde-Ensemble ihr „Niemandsland“ auf die Bühne: Ein Stück Plexiglas, auf ein fahrbares Holzgestell montiert, simuliert die motorisierte Welt; die Gewänder der Meßdiener, auf kurze Leinen zum Trocknen gespannt, erinnern an die Enge sizilianischer Gassen. In traumvernetzten Bildern, auf unsicheren Beinen durch Leonardos Renaissancewelt, bewegen sich die Schauspieler kaum als Spieler, eher als Überlebende. Sie alle – auratisch, präsent, traurig, schön. Die präzise Sprache des Allegorienspiels, des fahrenden Volks, der mittelalterlichen Mimen findet sich hier wieder in ihrer schönsten Weise.

Kaum ein Ensemble kann dieses alte „Handwerk“ noch so genau und diskret auf die Bühne bringen.

Wer bei Einar Schleef den Stechschritt gelernt hat, wie soll der noch gehen? Die Männer und Frauen des „Theater des 8. Tages“ gehen in einer Stunde auf dutzenderlei Art und Weise ... Im strengen Sinne behandeln sie den Schaffensprozeß als das „Werk einer Gemeinschaft, als Demonstration der Gruppenkultur“ (E. Kalemba- Kasprzak), und das seit 29 Jahren. Mit ihren freien Improvisationen über Mandelstams Gedichte beispielsweise machten sie sich im sozialistischen Polen verdächtig. Man verbot ihre Auftritte, drängte sie in die Kirchen (wo sie, nicht immer freiwillig, zur Stimme der Anti-Propaganda wurden), spaltete die Gruppe in zwei Hälften, einige entließ man über die westliche Grenze. „Niemandsland“ ist nicht zuletzt die ästhetische Verarbeitung ihrer eigenen Erfahrung.

In die „Werkstatt der Kulturen“, auf die Bühne der wiedereröffneten alten Brauerei in der Wissmannstraße, allerdings will „Niemandsland“ nicht so recht gehören.

Zu unbewohnt und unbekannt der Ort, gesichts- und geschichtslos der Raum. Man hätte der Gruppe eine ganze Bahnhofshalle gewünscht, schon um die sakrale Musik vom Band mit dem Halleffekt der Stimmen zu synchronisieren. War nicht das „Niemandsland“ dieses kleinstmögliche Spielfeld im größtmöglichen, leeren Raum?

„Niemandsland. Version II“ vom „Theater des 8.Tages“. Mit Ewa Wójciak, Adam Borowski, Tadeusz Janiszewski, Marcin Keszycki. Noch heute und morgen um 20 Uhr in der „Werkstatt der Kulturen“, Wissmannstraße 31-42, Neukölln.