Wand und Boden
: Der Verfall im Rüschenkleid

■ Nicht zu domestizieren, rätselhaft oder mit vorgegebener Blickrichtung – Kunst in Berlin jetzt: Manfred Gräf, Petra Halm, Thomas Florschütz und Dagmar Uhde

Die Tafelbilder Nr.1 und Nr. 2 sind fast identisch. Das irritiert manche Betrachter im Produktionstechnischen Zentrum des Fraunhofer Instituts für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik und des Instituts für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik der TU Berlin. Denn ist nicht Kunst das ganz Andere gegenüber naturwissenschaftlich-technischer Standardisierung? Doch Manfred Gräf, Jahrgang 1928, ist an diesem Ort mit seiner Malerei geradezu ideal präsentiert. Sein Malgestus zitiert deutlich Geometrie und Präzision der Naturwissenschaft. Op-art und konkrete Malerei tauchen als schwache Erinnerung an diesen Malstil auf. Flächenwahrnehmung springt in Raumwahrnehmung um und umgekehrt. Mit einigem Erstaunen bemerkt man, wie die kühle, überlegene Dominanz von Gräfs Formen und Farben in diesem Wechselspiel nicht zu domestizieren sind.

Nr.1 und Nr.2: Dachziegelartig sind verschiedene Rottöne aufeinandergeschichtet und gegeneinandergeschoben, und dazwischen spitzen Blau, Grün und Gelb auf; ein weißes dripping, das Jackson Pollock entlehnt wurde, vernetzt das Farb- und Formgeflecht. Entgegen Pollocks aktionistischer Heftigkeit bleiben Gräfs Arbeiten distanziert und frei von Effekten. Von Affekten freilich nicht: Nr. 14 von 1991, Öl auf Karton, trägt den Titel „Gegenwelt zum Golfkrieg (60 Milliarden Dollar * 200.000 + 79 Tote)“. Die militärgrüne, aber auch als frühlingsgrün zu interpretierende, kleinteilige Flächenmusterung fängt den Betrachter in einem reflexiven Zwang zum immer genaueren Hinschauen. Das große, das Gesichtsfeld völlig beherrschende Bildformat läge nahe, aber Gräf gewinnt diesem autoritativen Gestus nichts ab: Das Triptychon „Progression Farbe“ I-III, 1993, zeigt im kleinen Format, daß er sich der Stringenz seiner konzentrierten Farb- und Formmeditationen sicher ist.

Auf Petra Halms Arbeiten entwachsen gewebeartige, rötlich-weiße Faden- und Flächensysteme tiefstem Schwarz. Der Künstlerblick scheint der des Elektronenmikroskop zu sein. Und der Betrachter vermeint das Knistern seines Nervengeflechts zu spüren.

Bis 17. Dezember, Pascalstraße 8-9, Mi-Fr, 16-18 Uhr und nach Vereinbarung

Irritation der Galerie-Rundgängerin: Ist man selbst diejenige, die sich in der Galerie Sonne gleich im nahtlosen Anschluß an solche Körper-Op-art wähnt, oder sprechen die Zeichen sichtlich dafür? Thomas Florschütz dekonstruiert und rekonstruiert in großformatigen Cibachrom-Assemblagen den menschlichen Körper. Wenn nicht im Schmerz, wie Wolfgang Max Faust einst bemerkte, dann inzwischen im Rohrschachtest. Die Nahaufnahme eines schwer zu enträtselnden Körperteils, vermutlich die Finger einer Hand, wird in seinen Diptychen und vierteiligen Arbeiten gekontert und/oder auf den Kopf gestellt. Die menschliche, rötlich durchblutete Haut zur hochglänzenden Farbformfläche rekonfiguriert, übersetzt die Zeichen des Körpers in die Zeichen einer zweidimensionalen, strengen Geometrie.

Wenn es richtig sein sollte, daß wir nie nach der letzten Bedeutung der Zeichen fragen, sondern ein Zeichen nur durch ein anderes ersetzen, dessen Bedeutung uns unmittelbar verständlich und mithin unproblematisch erscheint, ohne daß wir dafür weitere Gründe angeben könnten – macht es das aus, daß die Perzeption dieser monumentalen Fotoarbeiten nicht vorrangig ihre Apperzeption verlangt? Zeichenbewegung als ästhetischer Prozeß, der weder in Rhetorik aufgeht, noch Metaphern bildet. Der gebannte Blick: man sieht nicht weiter als man sieht, man kommt nicht „hinter“ die rotdurchglühte Formen, die schwarzen Schatten, die die Bildfläche teilen und strukturieren, dehnen und zusammenziehen.

Plexus, bis 29. Januar, Kantstraße 138, Di-Fr, 11-13 Uhr, 15-18.30 Uhr, Sa 11-14 Uhr

Neun Fotoarbeiten auf Tellern, die auf Säulen plaziert wurden, und zehn Schwarzweißfotografien an der Wand zeigen Bilder der Straße Jana Kilińskiego in Lodz. Dagmar Uhde in der Galerie Ermer gibt die Blickrichtung vor: Auf die Bilder an der Wand blickt man hoch, so wie es das Kameraauge tat und sieht eine Hausecke, Wände mit abblätternden Stuckverzierungen und Säulen; teilweise wird der abgeblätterte Putz, die abgeblätterte Farbe zu einer Oberfläche eigener Architektur. Der Verfall trägt sein hübschestes Rüschenkleid. „Gegen Abend, in der Jana Kilińgskiego, sah ich einen Mann mit einem halben Brot unter dem Arm. Die angeschnittene Brothälfte war ein kleines leuchtendes Oval“, liest man in einem Text der Künstlerin. Eine simple Beobachtung dieser Art, das Bild eines Mannes, der die Straße im Autogewühl überquert, ist in die Porzellanteller eingebrannt. Auf sie sieht man hinab. Sie sind teilweise nicht fertiggestellt, Dagmar Uhde hat sie dem Handwerker abgeluchst, in den verschiedenen Phasen der Entstehung. Für diesen war der Schnappschuß auf dem Teller ein Experiment in Monumentalisierung. Dennoch geht die Arbeit der Künstlerin nicht auf neue Erhabenheit aus, im Gegenteil. Denn die Technik wird in Osteuropa für kleine Porzellantäfelchen angewandt, die, in die Grabsteine eingelassen, das Bild der Verstorbenen aufbewahren. Brigitte Werneburg

Bis 23. Dezember, Knesebeckstraße 97, Di-Fr, 16-19 Uhr, Sa 13-17 Uhr.