: Verborgener Knast im Knast
Geheimgehaltenes Gutachten über Zustände in Psychiatrischer Abteilung des Tegeler Knasts aufgetaucht / Vernichtendes Urteil eines Experten/ Kritik inzwischen überholt? ■ Von Plutonia Plarre
Psychisch kranke Gefangene sind die Stiefkinder des Strafvollzugs. Sie sind Leidtragende des Dilemmas, daß sich die Gesellschaft nicht entscheiden kann: „Sollen sie als Kranke oder als Kriminelle behandelt werden?“ benennt der bekannte psychiatrische Sachverständige Professor Wilfried Rasch das Problem. „Sind sie – wie es sich auf englisch am handlichsten ausdrücken läßt – mad oder bad?“
In Berlins größtem Männerknast, der Justizvollzugsanstalt Tegel, gibt es für Gefangene, die während der Haft psychisch erkrankt sind, nur eine Alternative: Sie werden in die Psychiatrisch-Neurologische Abteilung (PN) verlegt – in ein abgeschlossenes Anstaltsgebäude mit rund 40 Plätzen in Ein- und Mehrbettzimmern. Doch was in diesem Knast im Knast geschieht, dringt nicht durch die Mauern. Der vor kurzem pensionierte Leiter des forensischen Instituts der FU, Professor Wilfried Rasch, hat die PN vor drei Jahren für die damalige rot-grüne Koalition untersucht. Doch nicht einmal der parlamentarische Rechtsausschuß bekam die Stellungnahme je zu Gesicht. Der Grünen-Abgeordnete Albert Eckert, der mehrfach darauf drängte, kann sich die Geheimhaltung nur damit erklären, daß Rasch zu einem vernichtenden Urteil über die PN gekommen ist. Das drei Jahre alte Schriftstück wurde der taz jetzt zugespielt. Und siehe da: Eckert hat mit seiner Vermutung recht.
In der 1990 gefertigten Studie bezeichnet Rasch die PN als „Fossil der Verwahrpsychiatrie“. Die Visiten, denen er beigewohnt habe, hätten sich im wesentlichen auf die Verordnung von Medikamenten und auf Ratschläge beschränkt, „die in dieser Form den Patienten sicher nicht helfen“. Ein Teil der in der PN untergebrachten „in Geisteskrankheit verfallenen“ Gefangenen gehöre in allgemeine psychiatrische Krankenhäuser. „Die derzeitige Praxis (bezogen auf das Jahr 1990, d. Red)“, so Rasch unverblümt, „verstößt gegen die Vorschrift, daß schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken ist“. Aber Raschs Kritik geht noch viel weiter: „Etwa ein Drittel“ aller Strafgefangenen, so seine Einschätzung, sei „in irgendeiner Weise psychisch gestört“ und sollte deshalb „eher einer Behandlung als einer Bestrafung zugeführt werden“. Das Fazit des Professors: Von Detailveränderungen sei keine Verbesserung der Funktionalität der PN zu erwarten. „Es bedarf einer grundlegenden Reform, die in ihrem Charakter einer Auflösung der jetzigen Abteilung gleichkommt.“
Der Leiter der Abteilung Strafvollzug in der Justizverwaltung, Christoph Flügge, dementierte gegenüber der taz, daß die Studie wegen ihres brisanten Inhalts geheimgehalten worden sei. Rasch habe nie einen Gutachtenauftrag bekommen, sondern sich lediglich die PN „angeguckt“ und seine Verbesserungsvorschläge in einem internen „langen Brief“ niedergelegt. Er persönlich, so Flügge, habe nie einen Hehl daraus gemacht, daß die PN dringend verändert werden müsse. Dies sei in den vergangenen anderthalb Jahren zum Teil bereits geschehen, zum Beispiel durch Schulungen des Personals und eine Erweiterung der Aufschlußzeiten. Zu einem „echten Durchbruch“ werde es im kommenden Jahr kommen, wenn die PN mit dem forensischen Institut der FU „verzahnt“ werde, hofft Flügge. Das Novum: Der noch zu findende neue Direktor des FU-Instituts und seine beiden ärztlichen Kollegen würden sowohl die PN betreuen als auch an der Universität lehren. Damit sei „frischer Wind“ in der Psychiatrischen Abteilung garantiert. Auch baulich müsse die veraltete PN saniert werden, zuvor müßten Senat und Parlament jedoch erst einmal das neue Vollzugskrankenhaus in Buch auf den Weg bringen.
Mit der Kritik von Rasch, viele Gefangene gehörten aufgrund ihres Krankheitsbildes nicht ins Gefängnis, stimmt Flügge völlig überein. Das Problem sei nur: Wohin mit ihnen? Der Maßregelvollzug in der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik sei schon jetzt „schlicht überlaufen“. Und eine Verlegung in eine externe Psychiatrie scheitere in der Regel daran, daß die Staatsanwaltschaft die erforderliche Zustimmung verweigere.
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