"Nirgendwo ein gerngesehener Gast"

■ Ein Rollstuhlfahrer, der sich durch fehlende behindertengerechte Toiletten ausgrenzt fühlt, wird mehr durch bauliche Barrieren als durch seine Krankheit "behindert"

Darf ein Regierungsdirektor auf den Gehweg pinkeln, wenn er im Rollstuhl sitzt und in dem Lokal, in dem er gerade gegessen und getrunken hat, kein geeignetes Klo vorhanden ist?

Tagsüber arbeite ich an verantwortlicher Stelle für die Verbesserung der Wirtschaftsstruktur, und hier gibt es kaum ein tatsächliches oder rechtliches Hindernis, das nicht überwunden werden muß und daher auch überwunden wird. Wenn ich aber nach Dienstschluß ein Bierchen trinken, essen gehen oder sonst etwas unternehmen möchte, dann stehe ich immer öfter und immer noch ziemlich fassungslos vor der Erkenntnis, daß ich nirgendwo mehr ein gerngesehener Gast bin, wenn ich im Rollstuhl sitze. Bauliche Barrieren und das Fehlen von Toiletten sprechen eine deutliche Sprache.

Von den über 9.000 Berliner Gaststätten, Restaurants, Kneipen, Cafés usw. haben weniger als zwanzig eine behindertengerechte Toilette. Das ist durchschnittlich eine Gaststätte auf etwa 50 Quadratkilometer. In Kinos, Theatern, Kabaretts oder wo man sonst noch schöne Stunden verbringen könnte, ist es nicht besser. Zwar gibt es noch ein paar öffentliche Toiletten, aber die können schon deshalb weder eine Alternative noch eine Notlösung sein, weil sie in der Regel kilometerweit entfernt und oft außer Betrieb sind.

Was in europäischen Ländern wie Skandinavien, Dänemark, Holland oder in Kanada und den USA längst alltägliche Praxis ist, wird vom Berliner Senat und von den ehrenwerten Beamten und Juristen der Berliner Verwaltung entweder nicht zur Kenntnis genommen oder für baulich nicht machbar, für wirtschaftlich nicht zumutbar oder gar für verfassungswidrig erklärt. Nur – welche diskriminierende Wirkung diese Lustlosigkeit hat, das will keiner wahrhaben. Aber damit nicht genug. Selbst offenkundige Verstöße gegen geltende Bauvorschriften werden im nachhinein mit fadenscheinigen Argumenten gerechtfertigt.

Scheißen und Pinkeln ist weder ein Naturrecht noch ein Menschenrecht, noch ein Verfassungsrecht oder sonst ein Recht, das irgend jemand gewähren oder einschränken kann. Aber mit Hilfe der (fehlenden) Toiletten läßt sich die Distanz zu Menschen mit Behinderungen ebenso wirksam wie klammheimlich herstellen. Der Senat muß daher endlich einmal Rechenschaft ablegen, warum er seit Jahren untätig ist und damit (un)vollendete Tatsachen schafft.

Es gibt Rechtsvorschriften, die bei Publikumsverkehr Toiletten zwingend vorschreiben. Es gibt daher in ganz Berlin nicht eine einzige Gaststätte, in der nicht mindestens eine Toilette für Männer und eine für Frauen eingerichtet ist. Das hat gute Gründe. Aber all diese Gründe gelten offenbar nicht, wenn es um behinderte Menschen geht. Dabei braucht eine behindertengerechte Toilette, die natürlich auch von Nichtbehinderten genutzt werden könnte, nur etwas mehr Platz und ein paar Haltegriffe.

Wenn und solange der Berliner Senat von seinen rechtlichen oder sonstigen Möglichkeiten, die er hat, einseitig nur zugunsten von Nichtbehinderten Gebrauch macht, nicht aber in gleicher Weise für Behinderte, dann kann das nur heißen, daß behinderte Menschen nach Meinung des Senats in Gaststätten, Restaurants, Cafés, Kneipen, Theater, Kinos usw. nichts zu suchen haben. Wäre er anderer Meinung, könnte er es ändern, notfalls durch Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen.

Behindert zu sein ist bei weitem nicht so dramatisch, wie es häufig dargestellt wird. Aber durch vermeidbare bauliche Barrieren behindert zu werden, ausgeschlossen zu werden oder wegen fehlender Toiletten auf die Teilnahme am „Leben in der Gemeinschaft“ verzichten zu müssen, das ist nicht nur ein Armutszeugnis für Berlin, das ist bewußte und gewollte Ausgrenzung und damit eine Verletzung des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und der Menschenwürde. Das ist es, was mich zu einem Behinderten macht, nicht meine körperlichen Einschränkungen oder die Aussicht, in absehbarer Zeit rund um die Uhr von fremder Hilfe abhängig zu sein.

Ich kann und will nicht akzeptieren, daß ich jede kleine und kleinste Freizeitaktivität erst mit meiner Blase abstimmen muß oder mich nur noch in unmittelbarer Nähe einer der wenigen Behindertentoiletten aufhalten darf.

Ich will nicht mehr und nicht weniger als mindestens ebenso viel Scheiß machen wie jedes Mitglied des Senats, ebenso oft und auf ebenso vielen Örtchen. Klaus Fischbach

Der 50jährige Autor ist Jurist und arbeitet in der Wirtschaftsverwaltung. Seit fast 20 Jahren leidet er an progressiver Muskeldystrophie und ist seit vier Jahren auf den Rollstuhl angewiesen.