Das Videomassaker

■ Mord, Lügen, Video und die Seniorenministerin Rönsch

„Mit Betroffenheit“ hat die Bundesministerin für Familie und Senioren, Hannelore Rönsch, am Mittwoch erfahren, daß der Pay- TV-Sender premiere den Film „Chucky 3“ ausstrahle, „der in Großbrittanien im Prozeß um den Mord von Kindern an dem kleinen James Bulger eine Rolle gespielt hat. Wie Sie wissen, hat der Richter Parallelen zwischen Szenen des Films und dem Tathergang gesehen.“ Wir wissen nicht, ob der Richter diese Parallelen „gesehen“ hat. In der Süddeutschen Zeitung vom 26.11. ist nur die Rede von einer „Vermutung“: „Es ist nicht meine Aufgabe“, so der Richter wörtlich, „über die Erziehung der beiden zu urteilen, aber ich vermute, daß sie Gewalt-Videos konsumiert haben, was ein Teil der Erklärung sein könnte“.

In der SZ vom Tag darauf heißt es dagegen: „Auch die Annahme, daß die beiden zur Tatzeit Zehnjährigen von Videos beeinflußt worden seien, wird trotz entsprechender Bemerkung des Richters zurückgewiesen: ,Ich weiß nicht, wie er auf diese Idee kommt‘, sagt der leitende Polizei-Ermittler. Während der Untersuchung haben Beamte 200 Videos angeschaut, die Johns Mutter ausgeliehen hatte. ,Darunter waren manche, die Sie und ich nicht sehen würden, aber es gab nichts – keinen Plot, keinen Dialog – worauf man zeigen und wovon man sagen könnte: das hat den Jungen beeinflußt.‘“

Doch derartige Tatsachen interessieren nicht. Obgleich es sich bei der Parallele zwischen Film und Mord nach dem Wortlaut des Richters um eine „Vermutung“ und nicht um ein Faktum handelt, entblödete sich der medienpolitische Sprecher des Bündnis 90/Grüne, Konrad Weiß, nicht, auf Rönschs Entrüstung noch eins drauf zu setzen: „Es ist eine unglaubliche Mißachtung der öffentlichen Debatte über Gewalt im Fernsehen, wenn der Pay-TV-Kanal ausgerechnet den Film ausstrahlt, der für den Mord an einem zweijährigen Jungen in England offensichtlich als Vorlage diente“.

Interessant sind die Wege jener „stillen Post“, auf denen eine bloße Vermutung zur Tatsache wird: Die Spur führt zu „Spiegel TV“. In einer Reportage vom 28.11. berichtete das Geifer-Magazin, die beiden zehnjährigen Mörder hätten „nach einem Drehbuch gehandelt“. Der Vater des einen Jungen habe – unter anderem – den Spielfilm Chucky 3 ausgeliehen.

Die Macher von Spiegel TV können den Film nicht gekannt haben. Dort heißt es nämlich, der Film zeige die Entführung einer Puppe. Als Beleg für diese Hypothese sehen wir eine Szene, in der ein Soldat eine Kinderpuppe durchs Bild trägt. Wenn aber Spiegel TV einen Ausschnitt des Films zeigt, so müssen die Verantwortlichen den Film gesehen haben. Darin geht es aber nicht um die Entführung einer Puppe. Auch die FAZ (26.11.) irrt gewaltig, wenn sie schreibt, daß der Film zeige, „wie ein Kind zerstückelt wird“. Das belanglose B-Movie handelt jedoch davon, daß ein skrupelloser Fabrikant von Kriegsspielzeug von seinem eigenen Geschöpf umgebracht wird.

In Chucky 3 wird kein Kind entführt. Umgekehrt: eine Puppe entführt ein Kind. Die Puppe wird auch nicht auf die Gleise gelegt; jegliche Parallelen sind Hirngespinste. Am Ende „stirbt“ die Killerpuppe dort, wo sie eigentlich herkommt: in der Geisterbahn eines Rummelplatzes. Es geht hier aber weder darum, die pädagogisch gemeinten Allegorien eines schlechten Films zu beurteilen, noch seine spärliche Darstellung von Gewalt. Es geht darum, wie hier auf mieseste Art Fakten verfälscht werden, um erneut die Gewalt„debatte“ anzuheizen: Eine rein geschäftliche Angelegenheit.

Zu rügen ist daher die Infamität, mit der hier ein Zitationskartell kreativer Desinformation von all denjenigen installiert wird, die den Film faktisch nicht gesehen haben. Daß sich auch die Grünen mit der konservativen Wirkungsdoktrin von der entsittlichenden Verrohung durch Horrorfilme solidarisieren, ist besonders traurig. Manfred Riepe