Die Angst fliegt immer mit

Fest geschlossene Augen, rasendes Herzklopfen, Schweißausbrüche: 30 Prozent der deutschen Fluggäste leiden unter Flugangst. „Seminare für entspanntes Fliegen“ der Lufthansa wollen in Theorie und Praxis für Abhilfe sorgen  ■ Von Reimar Paul

Jetzt lesen? Wie kann man jetzt Zeitung lesen? Jetzt, wo die Maschine mit zwei- bis dreihundert Kilometern pro Stunde und heulenden Triebwerken die Startbahn entlangrast! In diesem Moment, Sekunden vor dem Abheben und dem großen Crash! Am wahrscheinlichsten ist ein Zusammenstoß mit einem anderen, gerade landenden Flugzeug. Vielleicht ist unsere Maschine aber auch überladen und kommt gar nicht hoch. Fest geschlossene Augen, rasendes Herzklopfen, Schweißausbrüche, die Hände krampfhaft um die Sitzlehnen geklammert – aber doch nicht lesen!

Bei diesen dichten Wolken, dieser schlechten Sicht muß einfach was passieren. Dagegen können auch die solideste Technik und die am besten geschulte Crew nichts ausrichten. Bestimmt reißt der spürbar stärker werdende Wind ein Triebwerk oder eine Tragfläche ab. Oder das Flugzeug bricht ganz auseinander, wenn eine richtige Böe es von der Seite erfaßt. Und wenn wir in einen Wirbelsturm, eine Windhose, geraten, dann ist es sowieso aus.

Rund dreißig Prozent aller deutschen Fluggäste geht es so ähnlich wie mir: Wir haben Angst beim Fliegen und Angst vorm Fliegen. Komme mir jetzt niemand mit Statistiken und Vergleichen über die angebliche Sicherheit des Verkehrsmittels Flugzeug. Allein die große Zahl derjenigen, die unter Flugangst leiden, beweist doch, wie berechtigt unsere Furcht ist.

Meine Flugangst kam vor drei oder vier Jahren angekrochen. Ganz langsam. Einen bestimmten, besonders turbulenten Flug oder andere vermeintlich gefährliche Erlebnisse, welche meine Angst nachvollziehbar ausgelöst hätten, gab es nicht. Irgendwann war sie da, wurde stärker und entwickelte sich schließlich zu einer veritablen Panik. Die konventionellen Methoden zur Flugangstbekämpfung versagten ohne Ausnahme. Pflanzliche Beruhigungsmittel, Valium und Alkohol in kleineren und auch größeren Mengen halfen nicht.

Was also tun? Nicht mehr fliegen? Der Tip, es doch einmal mit dem „Seminar für entspanntes Fliegen“ der Lufthansa zu versuchen, kam von einem Kollegen.

An einem Samstag morgen um neun Uhr haben sich zehn unausgeschlafen und nervös wirkende Flugangsthasen und -häsinnen aus Norddeutschland im Konferenzraum eines Hannoveraner Flughafenhotels versammelt. Nur drei sind noch nie geflogen; die anderen hat die Furcht im Verlauf ihres Fliegerlebens erwischt.

Die 43jährige Barbara Föse ist selbst längere Zeit als Stewardeß unterwegs gewesen, hat danach ein Psychologiestudium begonnen und mit einer Diplomarbeit über Flugangst abgeschlossen. Seit drei Jahren leitet sie in verschiedenen deutschen Flughafenstädten die „Seminare für entspanntes Fliegen“. Mit einigem Erfolg: Bei fast neunzig Prozent aller KursteilnehmerInnen sei die Angst „signifikant“ zurückgegangen; mehr als die Hälfte habe angegeben, die verbleibenden Reste von Furcht jetzt gut bekämpfen und unter Kontrolle bringen zu können.

Partnerinterviews und anschließendes Vorstellen in der Gruppe. Die unterschiedlichen Auslöser für Flugängste kommen auf den Tisch: Einige können die Höhe nicht ertragen, andere geraten beim Gefühl des Eingeschlossenseins in Panik, manche werden bei den Warteschleifen über den Zielflughäfen halb wahnsinnig. Petra mag nur in der Nacht fliegen, wenn sie nichts sehen kann, Sven allenfalls am Tage. Vera befürchtet ständig den Ausbruch eines Feuers an Bord, Sven wiederum wartet immer darauf, daß in die Triebwerke geratene Zugvogelschwärme die Maschine zum Absturz bringen könnten. Gemeinsam ist allen Betroffenen das Gefühl, selber nicht in das Fluggeschehen eingreifen zu können und einer unbekannten Technik und den Fähigkeiten unsichtbarer Piloten ausgeliefert zu sein. „In jeder anderen Unfallsituation habe ich das Gefühl, selber noch eingreifen zu können“, bringt Achim das Psycho-Problem auf den Punkt. „Im Auto kann ich bremsen, im Zug die Notbremse ziehen und vom Schiff aus ins Wasser springen.“

Das von Barbara erläuterte Seminarkonzept klingt schlüssig: Da die Angst real und keineswegs pathologisch sei, könne es nicht darum gehen, sie zu leugnen oder zu unterdrücken. Statt dessen komme es darauf an, die in Gedanken, Gefühlen und im Verhalten auftretende Furcht um ihren überschießenden Teil auf jenes Maß zurückzuführen, das angemessen sei; das Signalsystem Angst durch aktives Eingreifen wieder unter Kontrolle zu bringen, es also daran zu hindern, sich in einem Teufelskreis aufzuschaukeln und als Panik selbständig zu machen. Und dafür gebe es erlernbare Strategien.

Eine Methode, Erregung abzubauen und bei Angst wirksam gegenzusteuern, ist die systematische Entspannung der Muskulatur. Sie funktioniert, jedenfalls in der Sicherheit des Tagungszimmers. In der nächsten Stunde sitzen wir mit geöffnetem Gürtel und geschlossenen Augen so locker wie möglich auf unseren Stühlen, beugen und strecken, spannen und entspannen auf Kommando abwechselnd Bizepse und Trizepse, Waden- und Schienbeine, Fußballen und Fingerspitzen, die Kopfhaut und die Nasenflügel, bis schließlich der ganze Körper schläfrig und warm geworden ist. Für plötzliche Streßsituationen, etwa eine abrupte Turbulenz in der Luft, gibt es ein Kurzprogramm: Dabei werden alle im Ernstfall nicht gerade von Klapptischchen oder unter den Sitzen eingeklemmten Gliedmaßen gleichzeitig für ein paar Sekunden kräftig angespannt. Barbara rät, die ganze Zeremonie im Trainings- wie im Ernstfall durch tiefe Atemzüge „möglichst durch den Mund“ zu begleiten.

Besuch von Kapitän Uwe Carstens am Nachmittag. Arbeitstitel „Gedankliche Neubewertung des Fliegens“. Der 47jährige („Ich habe immerhin 11.000 Flugstunden auf dem Buckel, und ich lebe noch“) stellt sich gelassen und lächelnd unserem Kreuzverhör: Die Triebwerke sind vor dem Start deshalb so laut, damit das Flugzeug die notwendige Startgeschwindigkeit erreicht. Das polternde Geräusch vor dem Abheben entsteht beim Einfahren des Fahrwerks. Nein, Luftlöcher gibt es nicht, nur Luftbewegungen. Die Tragflächen und Triebwerke sind so belastungsfähig, daß sie auch bei der größten anzunehmenden Turbulenz nicht abbrechen können. Gewitter und Blitzschläge können der Maschine nichts anhaben...

Spaziergang zum Flughafen. Inaugenscheinnahme einer Boeing 737. Während Kapitän Carstens im engen Cockpit den Technik-Interessierten geduldig die Funktion der einzelnen Instrumente und Apparaturen erläutert, führt Barbara eine Erkundungstour durch die Kabine an. Als sie den Schließmechanismus der Eingangstür demonstriert, schreit Vera auf. Für sie ist das allerschlimmste beim Fliegen, wenn die Tür vor dem Start zugeht. Dann fühlt sie sich eingeschlossen und wird vor Angst halb verrückt. Barbara mahnt Erlerntes an, die gedankliche Neubewertung der Vorgänge an Bord: „Nur wenn die Tür fest geschlossen ist, ist die Sicherheit der Passagiere gewährleistet.“

Richtig ernst wird es dann am Sonntag morgen. Vorbereitungen für den gemeinsamen Abschlußflug nach Frankfurt. Auf einer Kassette ist eine Flugsituation akustisch simuliert, mit allen typischen Geräuschen – den obligatorischen Sicherheitshinweisen der Stewardessen, den Ansagen des Kapitäns vor dem Durchfliegen von Turbulenzen, dem Rumpeln des Flugzeugrumpfes. Wir haben die Stühle in Dreierreihen aufgestellt, pressen die Beine oder die Fäuste zusammen, atmen tief durch den Mund und machen die eingebildeten Schaukelbewegungen des imaginären Fliegers mit. Diesen Flug überstehen alle gut.

Dann der „Ernstfall“. Der Zigarettenkonsum steigt in beachtliche Höhen, der gemeinsame Abmarsch zum Flughafen verzögert sich durch Klo-Aufenthalte. Jolanda und Werner, die noch nie geflogen sind, haben leichenblasse Gesichter. Immer wieder lassen sich einzelne auf dem Bürgersteig oder den Rasenflächen des Flughafenvorplatzes zu Entspannungsübungen nieder.

Im Warteraum bereiten wir uns unter den skeptischen Blicken der übrigen Fluggäste atem- und muskelmäßig weiter vor. Barbara nimmt Achim die Tageszeitung weg. „Alles, was wir sonst vor einem Flug machen, ist heute verboten.“ Werner zittert, Margot wird abwechselnd rot und weiß im Gesicht. Der Aufruf für unseren Flug. Der Weg durch den „Finger“, die Fluggastbrücke.

Unsere elf Plätze liegen neben- und hintereinander. Die elend lange Wartezeit bis zum Start verbringe ich mit Entspannungsübungen. Sven neben mir hat die Augen geschlossen, die Hände zu Fäusten geballt, pumpt mit den Armen. Margot japst nach Luft, Barbara beugt sich über sie, umfaßt sie. Wo ist Werner?

Die Maschine ist auf die Startbahn gerollt, dreht mit dem Bug in die Abflugrichtung. Die Triebwerke heulen auf, das Flugzeug beschleunigt. „Jetzt bis zehn zählen, und dann alles anspannen“, ruft Barbara. Wir starten. Pressen, Strecken, Beugen, Spannen. Tief durchatmen. Ich habe Angst, sehe die anderen nur noch verschwommen. Ich versuche, die gelernten Übungen anzuwenden. Plötzlich ist Barbaras Kopf über mir. „Lassen Sie alles raus“, sagt sie.

Die Landung und das Auschecken in Frankfurt nehme ich nur wie durch einen Schleier wahr. Sven wankt benommen über die Fluggastbrücke. Als wir uns eine Stunde später erneut zum Einsteigen versammeln, fehlt Werner. „Er fährt mit dem Zug zurück“, erläutert Barbara. Laut heulen die Triebwerke auf, als der Airbus zum Start beschleunigt. Die Zeitung, die ich mir an einem Stand gekauft habe, gleitet auf den Boden. Ich kann jetzt nicht lesen.

Die „Seminare für entspanntes Fliegen“ werden von der in München ansässigen Agentur Silvia Texter in Zusammenarbeit mit der Lufthansa angeboten. Adresse: Agentur Texter, Hohenstaufenstraße 1, 80801 München, Telefon: 089 – 391 739, Fax: 336 004