Leichenschänder, Crashtests etc.: Ethik im Zickzackkurs
■ Gibt es einen qualitativen Unterschied zwischen Obduktionen und Leichentests? Eine Skandalkritik
In einem Werbespot wird derzeit dazu aufgefordert, mit Tempo 30 gegen eine Betonmauer zu fahren, um die Qualität von Airbags zu testen. Man kann nur hoffen, daß nicht allzu viele 15jährige auf die Idee kommen, dieser obszönen Aufforderung zu folgen und die Materialprüfung mit Papis Auto nachzuahmen. Bei dem Material, das hier geprüft werden soll, handelt es sich aber keineswegs nur um den Airbag. Auf dem Teststand steht auch das Material des lebendigen menschlichen Körpers, die Bedingungen seiner Unverletzlichkeit.
Der Entwicklung des Airbags sind, das wissen wir nun, Versuche mit dem Material des toten menschlichen Körpers vorausgegangen; in diesem Falle allerdings prüfte man – ebenso wie in den ballistischen Tests mit Dumdum- Geschossen in Hamburg – die Bedingungen seiner Verletzlichkeit. Das Gerichtsmedizinische Institut Heidelberg hatte Crashtests mit Leichen durchgeführt, um die körperlichen Folgen eines harten Aufpralls präziser bestimmen zu können, als das mit den dafür üblicherweise benutzten Gliederpuppen möglich ist. Immerhin, so ein Zuständiger von Daimler-Benz, werden die Überreste mit Respekt behandelt. Das muß man sich mal vorstellen!
Genau das tut die Nation und verwickelt sich seither – unterstützt von der genüßlichen Aufbereitung des Falles durch die für's Ungeheuerliche zuständigen Medien – erneut in Fragen der universalistischen Ethik. Ob allerdings diese Ethik, die der Empörung und dem Ekel gegenüber diesem Umgang der Lebenden mit den Toten zugrundeliegt, überhaupt eine universelle Gültigkeit hat, erscheint fraglich. Die Grenze, die wir zwischen Leben und Tod ziehen, verläuft ja schon längst, je nach Anlaß, in einem Zickzackkurs und ist teilweise sogar durchlässig geworden.
Jenseits eines spontan empfundenen Unbehagens drängt sich vielmehr die Frage auf, ob es einen qualitativen, ethisch begründbaren Unterschied zwischen, sagen wir, Obduktionen und postmortalen Crashversuchen überhaupt gibt. In beiden Fällen wird der tote Körper zerstört und seiner physischen Unversehrtheit beraubt, was in den Befürchtungen mancher Christen den Appell vor dem Jüngsten Gericht beschwerlich erscheinen läßt. (Aber was sollen da erst versehentlich Geköpfte oder in Salzsäure aufgelöste Mordopfer sagen? Bleibt ihnen das ewige Leben verwehrt?) In beiden Fällen verfügen die Lebenden über die Toten, und ihre Indienstnahme für das Leben ist spätestens seit der Erfindung der Anatomie besiegelt. Leonardo da Vinci eröffnete mit seinen Studien dem Lebenden den Blick auf sein Wesentliches, seither fördern diese Einblicke den Wissenszuwachs über Krankheiten und ihre Heilung. Im Gegensatz zu Frankensteins Monster, dem aus Toten erschaffenen Homunkulus, und den untoten Zombies – die unsere Phantasie ja auf das angenehmste beschäftigen – wird im gekühlten Leichenkeller der Pathologie der Tote ein zweites Mal getötet.
Aber ist denn das Bild eines Toten, der auf einem Edelstahltisch darauf wartet, zerlegt zu werden – um Aufschluß über die Todesursache zu erhalten oder um eines seiner Organe an einen Lebenden weiterzugeben – weniger unheimlich als die Vorstellung einer angegurteten Leiche, die durch eine Windschutzscheibe fliegt? Das ist offenbar der Fall und hat viel mit Phantasie und Vorstellungskraft zu tun. Die Vorgänge auf dem Edelstahltisch distanzieren wir gewandt mit Hinweis auf ihre „Wissenschaftlichkeit“, an deren Berechtigung wir uns längst gewöhnt haben. Zugleich sind sie für's wohlige Grausen aufgrund ihrer Technizität nur bedingt geeignet (die überwiegende Allgemeinheit hält sich eher an die Körper in den Schubladen). In das Szenario des Crashtests aber schiebt sich die Vorstellung einer Inszenierung: der Simulation von Leben mit Toten. Eine Vorstellung, die, wie bereits bei den Gymnastikübungen mit der toten Mutter des Erlanger Babys, zwar gern gehegt, doch offenbar als besondere Zumutung empfunden wird. Die Leiche muß angefaßt, zurechtgebogen werden; aber nicht nur von Ärzten oder Bestattungsunternehmern, dem einzig für den handgreiflichen Umgang mit Leichen legitimierten Personal, sondern auch von Technikern und Ingenieuren – Leuten, fast wie wir selbst. Sie wird quasi zum Leben erweckt, um sie in einem gut vorstellbaren, weil alltäglichen Szenario ein weiteres Mal zu töten.
Nur auf den ersten Blick erstaunlich ist auch die Empörung darüber, daß die Tests „gar“ mit Kinderleichen durchgeführt wurden. Das öffentliche Interesse gilt – ganz wie im richtigen Leben – nämlich nicht der Frage, wer die Leiche ist, sondern vielmehr, was die Leiche war: ein Odachloser (die übrigens einen Großteil der universitären Übungsleichen stellen und deren Überreste anschließend respektvoll von „ihren“ Studenten bestattet werden); ein Erwachsener, der eine Erlaubnis zu postmortalen Experimenten erteilt hat oder nicht; oder eben „gar“ ein (unschuldiges) Kind.
So gesehen findet dieser Skandal – wie die meisten – nur im Kopfe statt: in Phantasien, die erzeugt oder unterdrückt werden und in der willkürlichen oder unwillkürlichen Identifikation mit den Toten. Es ist somit das Problem einer mißlingenden Distanzierung. Die qualitative Unterscheidung und Bewertung der beschriebenen Experimente steht und fällt allein mit den Aktualisierungen unserer Phantasien.
Das einzig brauchbare ethische Kriterium einer Unterscheidung – jenseits fundamental-religiöser Einwände – kann aber nur in einer Kritik des Verwertungsgedankens toter menschlicher Körper bestehen. Daß Tests nur den Geschäftsinteressen diverser Industriezweige dienen könnten, erinnert daran, daß es so etwas schon einmal gegeben hat, als nämlich tote Juden zu Seife und Lampenschirmen verarbeitet wurden. Das ist eine wirklich grauenvolle Vorstellung. Und das ist der Unterschied. Barbara Häusler
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