Wohlgroth – ein Traum mit unbestimmtem Verfallsdatum

■ betr.: „Schwere Krawalle nach Hausräumung in Zürich“, taz vom 27.11.93

[...] Der Artikel hinterläßt den Eindruck, daß in Zürich eine Gruppe gewalttätiger Jugendlicher trotz eines gutgemeinten alternativen Angebots seitens des Waffenkonzerns Oerlikon-Bührle am Freitag ihren destruktiven Aggressionen freien Lauf gelassen und dabei sogar die Verletzung unbeteiligter PassantInnen in Kauf genommen hatten. Tatsache ist, daß 120 Menschen ihren Wohnraum verloren haben. Hintergründe wurden in diesem Artikel auf knapp 15 Zeilen abgehandelt, wahre Zusammenhänge den LeserInnen jedoch vorenthalten.

Zwei Jahre lang hatten die vom Oerlikon-Bührle-Konzern übernommenen Fabriken und Wohnhäuser auf dem Areal der H. Wohlgroth & Co. Gasmesser & Apparatebau leergestanden, als an Pfingsten 1991 rund 80 junge Menschen das Gelände hinter den Gleisen des Züricher Hauptbahnhofs besetzten.

In mühsamer Arbeit wurden die unbewohnbar gemachten Gebäude (Türen und Fenster waren zugemauert und zugeschweißt, Sanitär- und Heizungsanlagen zubetoniert oder gar zerstört) wieder instandgesetzt, und das bisher umfassendste Wohn- und Arbeitsexperiment der Schweiz begann. Im Laufe der zweieinhalb Jahre stieg die Zahl der BewohnerInnen auf über 120, die sieben Wohnhäuser zu ihrem Lebensraum gemacht hatten. Während der größere Teil der dort lebenden Menschen eigentlich einem eher „bürgerlichen“ Leben nachging, baute eine von konstruktiver Kreativität sprühende Gruppe die Wohlgroth zu einer Kulturfabrik aus mit dem Motto: „Wir brauchen keinen Dampf, wir rudern selbst“.

Anfänglich wurden eine Volxküche, eine Volxbibliothek, Bars, Aktions- und Konzerträume eingerichtet. Für sich prostituierende drogenabhängige Frauen stand eine Notschlafstelle samt Betreuung zur Verfügung. Näh-, Elektro- und Holzwerkstätten, ein Flohmarkt, ein Kino, eine Milchbar, eine Bierbrauerei, ein Jazzkeller, eine Tangobar und eine Galerie kamen sukzessive hinzu. Im letzten Jahr realisierte die Programmgruppe rund 600 Auftritte von KünstlerInnen.

Nachdem Mitte September 1993 der letzte offizielle Mieter ausgezogen worden war, kündigte die Orlikon-Bührle AG, eine Tochtergesellschaft des Waffenkonzerns Oerlikon-Bührle (sie versorgte während des Zweiten Weltkriegs Deutschland mit Waffen, und Zürich wurde deswegen von der amerikanischen Luftwaffe bombardiert), den baldigen Baubeginn eines Komplexes aus Büros (in Zürich stehen Tausende Quadratmeter von Büroflächen leer), Läden, einem Restaurant und 45 Wohnungen (Mindestforderung der Stadt) an.

Die Stadtbaurätin der rot-grünen Stadtregierung, Ursula Koch, trat in geheime Verhandlungen mit Bührle-Chef Hans Widmer. Beide gaben auf einer gemeinsamen Pressekonferenz vor zwei Wochen bekannt, daß der Bührle- Konzern für beschränkte Zeit ein leerstehendes Fabrikgebäude, jedoch ohne Wohnmöglichkeiten, am Stadtrand (nicht Oerlikon, sondern Seebach) zur Verfügung stellen würde. Daß die überrumpelten BewohnerInnen der Wohlgroth diesen faulen Deal mit einem Waffenkonzern ausgeschlagen hatten, kann nur als konsequent gelobt werden.

Nach einem 15minütigen Ultimatum von Polizeichef Neukomm wurde vergangenen Dienstag unter massivstem Aufgebot an Polizeikräften, Hubschraubern und schweren Baumaschinen eine Investition mit Hoffnung und Gewinn zerstört.

„Mut und Kraft ist, was wir brauchen. Mut und Kraft, um uns auf das Leben einzulassen. Das selbstbestimmte, freie Leben, nicht das vorbestimmte, zweckmäßige, kleinkarrierte Ameisenleben der heiligen freien Marktwirtschaft. Wir wollen versuchen, ein kollektives Leben zu verwirklichen.“ (Wohlgroth-BewohnerInnen). Es war ein Traum mit unbestimmtem Verfallsdatum. Bernd Decker, Hannover