■ Nachtgedanken zum Tag von Magdeburg
: Zum Heulen

„Nu heilen se och noch“, sagte ein altes Mütterchen empört vor der Schaufensterscheibe eines TV-Ladens. Zum Heulen war auch den meisten Menschen in Sachsen-Anhalt angesichts der parlamentarischen Schmierenkomödie. Der Tag von Magdeburg. Ein weiterer Tiefpunkt auf dem Weg des deutschen Parlamentarismus nach ganz unten. Zumindest in einer Hinsicht wird dieser Tag historisch genannt werden müssen: So viele Tränen hat es bisher in einem deutschen Parlament noch nicht gegeben. Weder in der Paulskirche, noch bei der Gründung des Bundestages, auch nicht im ersten gesamtdeutschen Parlament. Aber was waren das auch für läppische Anlässe gegenüber der heraufziehenden nationalen Katastrophe – Machtverlust der CDU in Sachsen-Anhalt und eines um die Lichtgestalt Christoph Bergner betrogenen Staatsvolkes. Der FDP-Abgeordnete Breitenbach beschwor in seiner schwülstigen wie unredlichen Rede den 89er-Geist, der nun wirklich alles andere war als so verlogen, so unsäglich provinziell, so von winkeladvokatorischen Bubenstücken geprägt wie jenes Magdeburger Liebhabertheater. „Du hast de Rudorgelle (Ruderkelle) rumjeschmissen“, sagte Bergner schniefend und barg, vor Ergriffenheit taumelnd, das Köpfchen an der Brust des liberalen Rettungsschwimmers.

„DDR lebt“, muß man allen Ernstes jetzt sagen. So haben auch sie vor Ergriffenheit geweint, unsere einstigen Volksführer, bei allen Anlässen, Orden und Abschieden. Nun heult sich's endlich wieder im Osten. Auch der MDR weinte mit. Nicht nur jammervoll, furchterregend diese Hofberichterstattung. Ein Kommentator gar, der in der Hauptsendezeit allen Ernstes bekanntgab, selbst geweint zu haben vor Rührung. Sie geht immer schneller ihrem Ende entgegen, jene so ersehnte und so unverdiente gesamtdeutsche Demokratie. In Sachsen-Anhalt wurde ihr wieder eine Sterbeglocke geläutet. Die Glöckner, außer einem aufrechten Häuflein Bürgerbewegter und Sozialdemokraten, Abgeordnete aller Parteien, denen das noch einmal zum Cut getrimmte Totenhemd allemal lieber war als die zwar schmerzhafte, aber unumgängliche Operation. Das Versagen eines ganzen deutschen Parlamentes setzt Zeichen. Anstatt dem ostdeutschen Volk das schon vor 60 Jahren gebrochene und seitdem kaum verheilte Rückgrat zu stärken, wird es durch Ereignisse solcher Art immer weiter verbogen.

Großes Theater wirft große Fragen auf. Miserables Theater schlimme Visionen. Was, wenn dieses Land Sachsen-Anhalt wirklich in eine existentielle Krise gerät? Wie werden sich der Ministerpräsident und seine schluchzenden Männerfreunde verhalten? Sie werden weinen. Sonst nichts. Henning Pawel