■ Ökolumne: Targhe alterne Von Werner Raith
Laut Lexikon heißt „targa“ Plakette, Tafel, Schild; im besonderen ist darunter das Kraftfahrzeugkennzeichen zu verstehen.
Doch was sind „targhe alterne“? Die Wortverbindung steht derzeit wieder mal auf der Titelseite aller Zeitungen, klingt aus Radio und Fernsehen und ist vor allem ein Fluch: „Dio mio, in'altra volta targhe alterne“. Großer Gott, schon wieder „targhe alterne“.
Der Begriff, der da wie ein Damoklesschwert über dem Römer und Mailänder, dem Turiner und dem Neapolitaner schwebt, heißt genau übersetzt „abwechselnde Kraftfahrzeugkennzeichen“ und ist Italiens fürchterlichstes Angriffsinstru-Foto: Isabel Lott
ment gegen den verbreitetsten Umweltnotstand, den Smog: Zur Dezimierung des für den Ausstoß von Kohlenstoffmonoxid und anderen Umweltgiften besonders verantwortlichen Autoverkehrs ist italienischen Politikern und Administratoren eine Art Wundermittel eingefallen: Herrscht „Inversion“, also Luft- und Windstille ohne Austausch der Stadtluft mit der etwas weniger vergifteten Landatmosphäre, muß einfach die Hälfte aller Autos und Lastwagen in der Garage bleiben. Grundgedanke der „targhe alterne“: An Tagen mit geradem Datum – also etwa am 2. oder 4. oder 22. des Monats – dürfen nur Autos und Brummis mit Endziffer 2, 4, 6, 8 oder 0 fahren; an ungeraden die anderen.
Doch Pustekuchen: Italien wäre nicht das liebenswerte Land, in dem „tirare a campare“, das Durchwurschteln, Lebensprinzip ist, hätten die zunächst zur Luftmessung ausgerückten Öko-Meßtrupps und danach die entsetzt aufgestellten Auto-Zähltrupps nicht feststellen müssen, daß erstens die Luft überhaupt nicht besser wurde und daß, zweitens, auch der Verkehr unvermindert weiterrollte, mitunter sogar stärker als sonst.
Die Lösung des Rätsels: Italiens Autofahrer hatten gezeigt, wie dicht das soziale Netz im Lande doch noch ist. Ein gigantischer Verleih- und Tauschbetrieb hatte begonnen: Wer immer ein gerades Kennzeichen auf seinem Auto hatte, verlieh es, sofern er den Wagen nicht selbst brauchte, an notleidende, aber mit ungerader Nummer geschlagene Verwandte oder Bekannte; Besitzer von Zweitwagen hatten schon seit Bekanntwerden einschlägiger Pläne vorsichtshalber Kennzeichen beantragt, deren Endziffer nicht mit dem des Erstwagens korrespondierte. Wer nicht auf Freunde oder Bekannte zählen konnte, suchte die Endziffern 3 oder 8 zu erhalten – mit wenig schwarzem oder weißem Isolierband war aus der einen die andere Ziffer zu fabrizieren. In Neapel verkaufte die Camorra preiswerte Schilder für jeden, Einzelstückkosten 20.000 Lire – ein Klacks, verglichen mit den Strafbilletts ab 100.000 Lire aufwärts bei Verstoß gegen die „targhe alterne“.
Daraufhin erdachten wutentbrannte Beamte und Bürgermeister andere „targhe“-Versionen. In Mailand zum Beispiel durfte kein Fahrzeug mit Mailänder Nummer mehr in die Stadt einfahren oder sich dort bewegen – doch, Kinderspiel, das soziale Netz funktionierte auch da. Der Verwandte aus Brescia, Verona, Val d' Aosta oder Genua lieh gerne seinen Fiat Uno aus und fuhr dafür eine Woche den Alfa seines reichen Vetters aus Mailand, und gar der Bruder in Turin war froh, konnte er doch mit dem Mailänder Fahrzeug in seiner Stadt ebenfalls unbehelligt fahren, wo die eigenen Turiner Kennzeichen wegen Smogs gerade verboten waren.
Dann ging auch noch die letzte Rettungsaktion der Stadtluft schief: das Verbot des gesamten Verkehrs – mit Ausnahme behördlicher, polizeilicher und massentransportierender Fahrzeuge. Der Leser ahnt es schon: Wie eine Epidemie legten sich über die Windschutzscheiben der Autos nun Schilder „Blutkonserventransport“, „im städtischem Auftrag“, „Arztwagen“ oder auch „verderbliche Nahrungsmittel“.
Das alles erklärte freilich noch nicht, warum an solchen Tagen die Ausstoßwerte nicht nur nicht fielen, sondern örtlich anstiegen. Nachdem alle meteorologischen Verschärfungen ausgeschlossen waren, fiel Italiens Soziologen nur noch eine Deutung ein: Das Volk besteht eben, wie ein Mailänder Professor erläuterte, „vor allem aus mentalen Anarchisten – wird eine Vorschrift in Betrieb gesetzt, gibt es nichts Wichtigeres für uns, als sie zu durchbrechen“, und so fuhren an den Tagen der „targhe alterne“ eben auch noch Leute Auto, die zu dieser Zeit gar nicht hätten fahren müssen.
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