piwik no script img

Soziale Plastik, Vinyl, 1990–1993

■ Die erste Veröffentlichung von Arurmukha ist mehr als nur eine Schallplatte

Guten-Morgen-Gute-Laune- Muzak, der Sprecher setzt ein: „Die Welt schaut auf Berlin. Hier wächst aus Freiheit und Einheit die Zukunft.“ „Ach, halt's Maul!“ blökt jemand dazwischen. Herzlich willkommen zur Wiederaufführung eines Tages, der allzu schnell vergessen worden ist. Am 14.11.1990 wurde in der Mainzer Straße die sogenannte „Berliner Linie“ exekutiert und die dortigen besetzten Häuser geräumt.

„14.11.90“ heißt das erste Vinyl von Arurmukha und ist eine Platte geworden, die selbst im Koordinatensystem dieser Band noch mal extra spinnt – und das im positiven Sinne und in aller Ernsthaftigkeit. Arurmukha gehen einen Weg weiter, an dessen Ende die Bandstruktur völlig aufgelöst sein wird. Vom auch live auftretenden Duo aus Schlagzeuger und Gitarrist hin zur musikalisch-textlichen Datenbank, die speichert, was um sie herum und in ihr selbst vorgeht, und es je nach Suchlauf wieder ausspuckt. Mehr oder weniger geordnet werden Schnipsel aus Medien, O-Töne von Besetzern und Polizei und natürlich der Soundtrack der Räumung selbst mit Musik verarbeitet. Das Hauptinstrument für Marc Weiser und Jürgen Hendlmeier war logischerweise der Sampler. Mit ihm wurden Bänder, die Weiser mit seiner Gitarre bereits vor und während der Räumung aufgenommen hatte, mit neuem Tongut und dem Dokumentarmaterial zu einer Klangcollage verarbeitet. „Wir wollten eine Atmosphäre schaffen, daß man als Hörer genauso scheiße draufkommt, wie wir uns damals gefühlt haben“, erzählt Weiser, damals und heute Bewohner eines Hauses, das immer noch ohne Vertrag ist, in der Rigaer Straße.

Die Idee für diese Platte kam ihm unmittelbar nach der erlebten Räumung der Häuser in der Mainzer, um die eigenen Erfahrungen zu verarbeiten: „Für mich ist es visuelle Musik. Du hörst es und siehst die Wasserwerfer an dir vorbeifahren. Du fühlst – hoffentlich – die Hoffnungs- und Ausweglosigkeit, die wir damals fühlten.“ Jetzt inzwischen, wo die Platte passenderweise zum dritten Jahrestag der Polizeiaktion erschienen ist, ist längst mehr daraus geworden. Zum einen soll „14.11.90“ Vorurteile überwinden helfen. „Vorurteile der Häuser untereinander“, zwischen „,Vertragsschweinen‘ und Häusern, die immer noch keine Verträge haben“. Neben der Dokumentation dessen, was jeden dort unmittelbar angeht, sorgt auch die technische Produktion der Platte für „ein Zusammenwachsen der Friedelhainer Szene“. So trat Arurmukha im Roten Salon der Volksbühne nicht wie früher als Duo auf, sondern mit einem Dutzend Leuten in Gasmasken, die aus dem Konzert ein szenisches Ereignis machten.

Auch aus Kostengründen ging man bei der Covergestaltung einen völlig neuen Weg, denn „mit den Industrie-Standards kannste eh nicht mithalten“. Mit von Freunden geliehenem Geld wurde in der Tschechei die Auflage von 1.000 Stück mit völlig weißen Hüllen gepreßt, und momentan werden die Cover von denen, die wollen, nach Lust und Laune und künstlerischen Fähigkeiten mit Fotos, Collagen u.a. gestaltet. So entsteht jede Platte als Unikat, und die Gesamtheit der Auflage dokumentiert auf einer zweiten Ebene die Erfahrungen der Geräumten. Der Nachteil: Durch die zeitintensive Hüllengestaltung konnten bisher erst 200 Stück fertig werden, was den Vertrieb leicht ins Stocken geraten läßt. Nicht zuletzt schafft diese Platte eine Öffentlichkeit, die in ruhigen Zeiten von den Medien nicht gewährleistet wird: „Wir wollten die allgemeine Situation ins Gespräch bringen, nicht erst dann, wenn es wieder mal brennt oder Steine geschmissen werden.“ Denn immer noch sind zwölf Häuser in Friedrichshain ohne Verträge, und „die Leute werden unter Druck gesetzt“.

Zudem ist „14.11.90“ ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einem lokalen, selbstverwalteten Netzwerk im Bezirk, in dem es bisher neben der Kneipe „Schizzo-Tempel“, wo auch Konzerte stattfinden, und dem Plattenladen „Nevergreen“ kaum Anlaufpunkte gibt. Auf der B.I.D. bemühte sich Weiser zwar um einen der etablierten Platten-Vertriebe, fand aber erwartungsgemäß niemanden, der ein so offensichtlich nicht schubladengerechtes Produkt ins Programm nehmen wollte. Also wurde flugs ein eigenes Label namens „Goldrausch“ gegründet, das demnächst vielleicht auch anderes als Arurmukha verlegen wird und zusätzlich die Kontakte zu den Szenen in anderen Städten aktiviert. Man wird „14.11.90“ wohl leichter in der Düsseldorfer Kiefernstraße oder in der Hafenstraße in Hamburg kaufen können als in Zehlendorf.

Zwar findet die Idee vom alternativen Netzwerk im Bezirk Friedrichshain nach dem Washingtoner Vorbild Fugazi/Dischord seine Entsprechung in dem Suchen und Probieren der Musik auf „14.11.90“. Aber vor allem ist es natürlich die persönliche Platte von Weiser und Hendlmeier, wie eine Tagebucheintragung: „Und wenn sie auch uns in der Rigaer Straße noch räumen, dann habe ich zumindest diese Platte, und die kann man mir nicht wegnehmen.“ Thomas Winkler

Arurmukha: „14.11.90“, Goldrausch Tonträger, in den Läden Nevergreen, Mr.Dead & Mrs.Free, Scratch, Mot, Core-Tex, OH1 und Schizzo-Tempel. Oder für 12,- + 3,- DM Prozeßkosten direkt über Goldrausch, Brunnenstr.182, 10119 Berlin, Tel/Fax 030/ 282 57 31, Porto exklusive.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen