Zeitungsschmuggel

■ Ein Mordprozeß, über den in Kanada keiner reden darf

Es sind seltsame Dinge, die sich dieser Tage an der kanadisch-amerikanischen Grenze abspielen – zum Beispiel in Buffalo im US- Bundesstaat New York: Hunderte von KanadierInnen kommen des Morgens in die Stadt, kaufen sich ein Exemplar der lokalen Buffalo News, reißen eine Seite heraus, stopfen sie in die Schuhe, in die Hose oder unters Hemd – und kehren auf kanadisches Gebiet zurück. Wer Glück hat, kommt sicher nach Hause. Wer Pech hat, wird von kanadischen Zollbeamten vorläufig festgenommen.

Was die kanadischen ZeitungsleserInnen so sehr interessiert, sind Berichte über einen Mordprozeß in der Provinz Ontario, über den sie offiziell nichts wissen dürfen. Angeklagt sind der 29jährige Paul Teale und seine 23jährige Frau Karla Homolka. Beide sollen in den Jahren 1990 und 1991 mindestens zwei Mädchen entführt, über mehrere Tage hinweg gefoltert, vergewaltigt und schließlich ermordet haben. Homolka wurde im letzten Sommer zu zwölf Jahren Haft wegen Totschlags in zwei Fällen verurteilt. Der Prozeß gegen Paul Teale steht noch bevor.

Über diese mageren Informationen hinaus weitere Fakten zu drucken oder zu senden ist der kanadischen Presse verboten. Auf Anordnung von Richter Francis Kovacs wurde die Öffentlichkeit ebenso wie die ausländische Presse im Prozeß gegen Karla Homolka ausgeschlossen. Kanadische JournalistInnen waren zugelassen, durften aber nichts berichten – außer jenen Fakten, die für das Verfassen einer Meldung unabdingbar sind: Namen der Opfer, Name der Angeklagten, Urteilsspruch und Strafe. Weitere Details über die Verbrechen der beiden, vor allem Einzelheiten über den unglaublichen Sadismus gegenüber ihren Opfern, würde, so argumentiert Richter Kovacs, das Recht des zweiten Angeklagten, Paul Teale, auf ein faires Verfahren untergraben.

Der Richter hatte offenbar nicht mit der Neugier und Sensationslust vieler Landsleute gerechnet, die nun Zeitungsausschnitte über die Grenze schmuggeln, über internationale Computernetzwerke Details der Tat und des Prozesses austauschen oder just an jenem Abend Freunde im Nachbarland USA besuchen, an dem NBC oder Fox Television über den Fall berichten. Sich illegal Informationen über Paul Teale, Karla Homolka und ihre Verbrechen zu besorgen, ist in Kanada eine Art Sport geworden.

Die Entscheidung von Richter Francis Kovacs ist so ungewöhnlich nicht. In Kanada liegt es im richterlichen Ermessen, die Berichterstattung über einen Prozeß zu unterbinden oder einzuschränken, wenn das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren gefährdet erscheint. Angesichts der Lynchmob-Atmosphäre, die unlängst die Berichterstattung über den Liverpooler Kindermord hervorgerufen hat, mag sich der kanadische Richter bestätigt gefunden haben.

Die heimischen Medien, die gegen den Maulkorb zwar vor Gericht Widerspruch eingelegt haben, machen bislang keine Anstalten, Kovacs' Anordnung zu einem Grundsatzkampf um Pressefreiheit zu machen. Sie halten sich bis zur Entscheidung der Berufungsinstanz an das Verbot. Auch die US-Fernsehgesellschaften, Zeitungen und Zeitschriften, die sich mittels nicht namentlich genannter Beobachter des Homolka-Prozesses informierten, gehen auf Nummer Sicher. Das Nachrichtenmagazin Newsweek belieferte den kanadischen Markt mit einer Dezember-Ausgabe, in der ein Artikel über den Fall Teale/Homolka ausgetauscht worden war. Bei einem entsprechenden Bericht der Fernsehgesellschaft NBC schalteten sich die an NBC angeschlossenen Lokalsender im US-kanadischen Grenzgebiet aus.

Doch dank Zeitungsschmuggel, Computerbulletin, Kneipentratsch und TV-Satellitenschüssel wissen viele KanadierInnen eben längst, was sie eigentlich nicht wissen dürfen: Daß Paul Teale und Karla Homolka die Folter und Vergewaltigungen gefilmt und dem nächsten Opfer gezeigt haben; daß zu den Opfern auch Karlas vierzehnjährige Schwester Tammy gehört, die von beiden sexuell mißbraucht wurde, bevor sie an den Folgen eines Betäubungsmittels starb, das ihr Schwester und Schwager eingeflößt hatten; daß nach der Verlesung der Anklageschrift gegen Karla Homolka anwesende ErmittlungsbeamtInnen und GerichtsjournalistInnen weinten.

Im Zeitalter offener Grenzen und grenzenloser Kommunikationstechnologien erweist sich die Nachrichtensperre als extrem löchrig. Doch die Eltern der Mordopfer haben in den letzten Wochen mehrfach erklärt, daß ihnen ein lückenhaftes Verbot immer noch lieber ist als die Zumutung, jene Details über den grausamen Mord an ihren Töchtern wieder und wieder in fetten Schlagzeilen am nächsten Zeitungskiosk lesen zu müssen. Das allerdings wird ihnen nicht erspart bleiben: Nach der Urteilsverkündung gegen Paul Teale dürfen die kanadischen JournalistInnen alles über den Fall schreiben und senden. Andrea Böhm, Washington