Wer mehr als zehn Kühe hatte, wurde zum Tutsi

■ Burundis Hutu-Tutsi-Konflikt wurzelt in Tradition und kolonialer Apartheid

Als der österreichische Forscher Oscar Baumann im Jahre 1892 das eben der Kolonie Deutsch-Ostafrika zugeschlagene Gebiet des heutigen Burundi bereiste, entdeckte er eine komplex organisierte Monarchie, hierarchisch nach Kasten strukturiert.

Ganz oben stand die männliche königliche Aristokratie, die Ganwas, die ihre Ehefrauen aus zwei Tutsi-Klans bekam. Die Tutsis, eigentlich Viehzüchter, stellten dem König (mwami) Soldaten. Die Ackerbauern des Landes hießen Hutus und waren zu dieser Zeit noch nicht völlig aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen: Im Jahre 1929 – zehn Jahre nachdem die deutschen Gebiete Ruanda und Burundi vom Völkerbund der belgischen Mandatsmacht zugeordnet worden waren – war ungefähr jeder fünfte Stammeschef ein Hutu. Am Königshof waren Hutus Wahrsager, Weise, Minister und Wächter der Grabstätten. Ganz unten in der Gesellschaft standen die Twas, eine kleine Minderheit, die dem König Jäger, Musiker und Tänzer zur Verfügung stellten.

Die Aufteilung der Bevölkerung nach Ganwas, Tutsis, Hutus und Twas war somit eine soziale Schichtung. Kann man daher, wie es Deutsche und Belgier in der Kolonialzeit taten, von verschiedenen Ethnien reden, zumal alle vier Gruppen damals und noch heute dieselbe Kultur teilen und eine Sprache sprechen? Ethnologen und Historiker heutzutage tun dies nicht mehr.

Das Problem ist jedoch, daß im Laufe der Jahrzehnte viele Burunder selber dazu gebracht wurden, wie ihre kolonialen Herren an ethnische Unterschiede zwischen ihnen zu glauben. Missionare, Reisende und Kolonialbeamte beschrieben die Tutsis als hochgewachsene „Hamiten“ und die Hutus als kleinwüchsige „Bantus“, die naturgemäß ihren Tutsi-Herren unterlegen seien. Daß der Begriff „Bantu“ aus der Sprachwissenschaft stammt und mit Ethnien nichts zu tun hat, scherte sie nicht.

So wurden die vor der Kolonialzeit bestehenden sozialen Unterschiede verschärft. Die Kolonialmacht gründete ihre Autorität auf die Zusammenarbeit mit der vorgefundenen Elite aus Ganwas und Tutsis und stärkte deren Stellung noch. Im Jahre 1933 gab es keinen einzigen Hutu-Stammeschef mehr. Die religiösen Autoritäten des Landes, traditionell Hutus, waren schon längst von christlichen Missionaren entmachtet worden.

Bei der Volkszählung von 1934 wurde die Absurdität komplett. Jeden, der mehr als zehn Kühe besaß, klassifizierten die Belgier als Tutsi. Alle anderen galten fortan als Hutus. Per Verwaltungsakt – der späteren Apartheidideologie Südafrikas nicht unähnlich – bestand die Bevölkerung nunmehr aus 84 Prozent Hutus, 15 Prozent Tutsis und einem Prozent Twas.

Die Entwicklung des unabhängigen Burundis wurde stark durch den Nachbarstaat Ruanda beeinflußt, dessen Hutu-Bevölkerung 1959 eine „Revolution“ vollbrachte – in der Hoffnung auf belgische Unterstützung gegen die nach Unabhängigkeit strebenden Tutsi-Könige ihres Landes. Die ruandische Monarchie wurde gestürzt, viele Tutsis wurden vertrieben – die Wurzel des heutigen Bürgerkrieges in Ruanda. Nachdem Ruanda und Burundi 1962 in die Unabhängigkeit entlassen wurden, waren Bestrebungen unter den Hutus von Burundi im Gange, es ihren ruandischen Nachbarn gleichzutun und Hutu Power zu errichten. Um dies zu verhindern, putschte 1966 das burundische Militär, setzte das traditionelle Königtum ab und errichtete eine blutige Diktatur, unter der kein Hutu mehr Soldat werden durfte. Als die Hutus sich 1972 erhoben, wurde die Rebellion von der mittlerweile nur noch aus Tutsis bestehenden Armee gnadenlos und unter den Augen einer untätigen Weltöffentlichkeit niedergeschlagen, die noch bestehende Hutu-„Elite“ vom Minister bis zum Viehzüchter vernichtet. Einige Beobachter sprechen von bis zu 200.000 Toten.

Ein erneuter Hutu-Aufstand im Jahre 1988 unter Führung der Untergrundbewegung „Palipehutu“ („Hutu-Volksbefreiungspartei“), die sich aus den 200.000 nach Ruanda und Tansania geflüchteten Hutus rekrutierte, wurde ebenfalls niedergeschlagen – Bilanz: 5.000 bis 50.000 Tote. Danach leitete Präsident Pierre Buyoya eine Öffnungspolitik ein: die Benachteiligung im Bildungswesen wurde aufgehoben, ein Hutu wurde Premierminister.

Im Juni 1993 fanden zum ersten Mal demokratische Wahlen statt, bei denen der Hutu Melchior Ndadaye, Kandidat der „Demokratische Front Burundis“ (Frodebu), nach einer stark ethnisierten Wahlkampagne zum Präsidenten gewählt wurde. Am 21. Oktober wurde der Präsident von putschenden Militärs abgesetzt und ermordet. Nachdem daraufhin im ganzen Land bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Hutus und Tutsis begannen, verlor die Armee die Kontrolle und verzichtete auf die formale Machtergreifung. François Misser