Liga sucht Machtprobe im „Leonka“

Bürgermeister Formentini will das große alternative Zentrum in Mailand räumen lassen / Seit 1973 ist die Fabrik besetzt / Die „Leoncavallisti“ machen unbeirrt weiter  ■ Aus Mailand Raffaella Menighini

Der Name zeugt von Phantasie: Leoncavallo – Löwenpferd. Aber auch der Ort scheint irgendwelcher abstrusen Phantasie entsprungen: Mitten in Mailand, der Zentrale des Geldes und der Abschottung gegen Fremde und Arme, steht dieses Riesengebäude, die Mauern mit Spraydosen bemalt, innen und außen voller Nischen, in denen Kunst und Handwerk blühen, aber auch Politik produziert wird – und ein Zusammenleben all derer, die in den 80er Jahren im Untergrund werkelten oder an den Rand gedrängt wurden. Es soll nun, nach einem Entscheid des neuen Bürgermeisters Marco Formentini, endgültig geräumt werden. Am Samstag wurde bekannt, daß die Bewohner gruppenweise „disloziert“ und an verschiedenen Stellen der Stadt untergebracht werden sollen.

Doch trotz der markigen Sprüche des von der fremden- und randgruppenfeindlichen „Liga“ gestellten Stadtoberhaupts gehen die Bewohner des Zentrums wie schon so oft davon aus, daß ihr Widerstand und die Hilfe von außen stärker sein werden als der spießbürgerliche Rauswerf-Impuls. Die von Formentini untersagten Veranstaltungen – Musik- und Kunstforen – gingen jedenfalls gestern unbehelligt weiter.

Das „Leoncavallo“, von seinen Bewohnern liebevoll „Leonka“ abgekürzt, ist Relikt aus frühen Besetzerzeiten. Seit 1973 haben sich die zahlreichen Gruppen nach und nach auf dem beinahe ein Quadratkilometer großen Gelände und in der ehemaligen Fabrik und den Lagerhallen niedergelassen. Vielleicht ist das „Leonka“ aber auch schon wieder eine Avantgarde in dem „Milano da bere“ („Mailand zum Trinken“) wie jahrelang der offizielle Werbeslogan der Stadt lautete – nach einem Jahrzehnt, des Abstiegs in den Schlund der Schmiergeldrepublik der Anfang einer neuen Geschichte.

Nicht zufällig ist genau diese Stadt das Zentrum der „Ligen“ – unvermeidlicher Höhepunkt des Wandels von der einst gepflegten Solidarität, Sammlung, Freiheit des persönlichen Ausdrucks hin zum Egoismus, zur ethnischen Trennung. Es war kein Wunder, daß die Schließung des Leoncavallo zu den wichtigsten Wahlversprechen des Liga-Oberkandidaten Formentini gehörte, der im Juni an die Spitze der Stadt gewählt wurde.

Mailand ist – noch oder schon wieder – das Zentrum einer neuen Form politischer und kultureller Produktion. Von Mailand aus hat sich landesweit ein ganzes Netz selbstverwalteter Einrichtungen ausgebreitet, von den größeren Städten wie Turin, Genua, Rom, Neapel, Bari, Palermo bis in die fernsten Provinzen.

Entstanden sind diese Sozialzentren zwischen Mitte der 70er und Mitte der 80er Jahre, aus ganz unterschiedlichen Initiativen heraus. Manche sind Nachfolgeeinrichtungen der Überreste autonomer Gruppen. Andere orientieren sich an dem Gefühl für die Notwendigkeit, eine neue Linke aufzubauen, die sich entscheidend von der herkömmlichen unterscheidet.

Besetzt wurden leerstehende Gebäude, alte Kinos oder Fabriken, verlassene Häuser. Es entstanden ganz unterschiedliche Einrichtungen, Politkollektive, Wohnräume für Immigranten (in vielen Fällen waren die Immigranten die ersten, die die Initiativen ergriffen) und obdachlose Jugendliche. Es entstanden Handwerkstätten und Künstlerateliers, daneben oft die in nahezu allen italienischen Schulen fehlenden Turnhallen und Begegnungsräume.

Mitunter, etwa in Ostia, sind die Sozialzentren auch sichtbarer Ausdruck neuer Bündnisse: So hängen in einer aufgelassenen Kirche neben den – intakt gebliebenen – traditionellen Marienbildern neuerdings auch Poster von Malcolm X.

Neu ist in vielen Zentren auch der positive Kontakt, mitunter gar die enge Verbindung zwischen neuer Linker und High-Tech, mit Informatik und der Welt der Computer. Im Leoncavallo von Mailand gibt es eine der fortgeschrittensten Gruppen Italiens zum Studium computererzeugter „virtueller Realitäten“. Über ein dichtes Telematik-Netz stehen sie mit anderen Zentren in enger Verzahnung.

Neu jedoch ist auch ein anderer Aspekt: Im „Leonka“ wird Musik produziert, speziell Rap; die Gruppen, die ihn pflegen, heißen hier „Posse“. Es ist ein politischer Rap, was die Texte angeht, aber auch die Art, ihn darzubieten und als nichtkommerzialisierbare Eigenschöpfung zu deklarieren. Die „Posse“ sind hier im Leoncavallo – und in anderen ähnlichen Zentren – entstanden, und sie haben diese Stätten auch nie völlig verlassen. Auch wenn einige von ihnen durchaus Chancen für diskografische Erfolge bekamen.

Spektakulärstes Beispiel ist die Musik zum Film „Sud“, die der italienische Oscar-Preisträger Regisseur Gabriele Salvatores ausschließlich von den „Posse“ hat komponieren lassen. Als dann aber die japanische Sony den Vertrieb der Produktion übernahm, haben sich viele „Posse“-Gruppen wieder zurückgezogen. Wer dennoch weitermachte, hat einen „politischen“ Preis durchgesetzt – nicht mehr als 10.000 Lire (10 DM) pro Kassette, ein Drittel des sonst üblichen Preises.

Dennoch haben schon diese bescheidenen Öffnungen „zum Markt hin überaus komplizierte Debatten ausgelöst, nur knapp wurden traumatische Trennungslinien vermieden“, wie sich ein Rapper erinnert. Hört man den Debatten im Leoncavallo zu, kommen einem eher nostalgische Assoziationen: Von „Herrschaftsmusik“ ist die Rede, von „alternativen Zirkeln“, vom „Wiederbesetzen der Bühne“.

Der Regisseur Alberto Grifo hat vor einigen Tagen eine Art Bad in der Vergangenheit geboten. 1976 hatte er just in Mailand zusammen mit anderen Filmemachern, die sich „Videoteppisti“ (Videogangster) nannten, einen Musikfilm über das „Proletarische Jungenfestival“ im Lambro-Park gedreht. Beim Abspielen der Aufnahmen werden Erinnerungen lebendig an die großen Auseinandersetzungen zwischen jenen Festival-Genießern, die sich „alternativ“ verstanden, und den Organisatoren, die damals vor allem aus der rigiden Struktur von „Lotta continua“ kamen.

Über die Leinwand im großen Saal des „Leonka“ flimmern die Bilder aus der „proletarischen Enteignung“ von Hühnern und Kartoffeln, womit man damals gegen die überhöhten Preise auf dem Fest protestiert hatte. Bilder auch vom Sturm auf die Bühne, wo die Liedermacher heruntergeholt wurden und Raum für eigene Darbietungen geschaffen.

Die Leute im heutigen „Leonka“ fühlen sich selbst noch immer ein wenig als Teil jener Zeit. Das ist vor allem dann so, wenn jene harten Bilder von der „Jagd auf Drogenabhängige“ gezeigt werden: Der Ordnungsdienst prügelte damals die jungen Heroinsüchtigen hinaus, während diese das alte proletarische Kampflied „Bandiera rossa“ sangen. Begründung des Ordnungsdienstes: Wer fixe, unterwerfe sich der „Herrschaft des Heroins“ und den „Drogenbaronen“. „Unsere Strategie ist anders“, erklären die Festival-Organisatoren am Ende des Films, „wenn du Stoff in der Tasche hast, brauchst du gar nicht erst reinzukommen. Wir bieten hier keine Therapien an, aber wir bieten auf jeden Fall Alternativen.“

Das allerdings glaubt man auch heute noch, wenn man durch das „Leonka“ streunt. Es gibt alles, was man sich als Nostalgiker vorstellen kann: Sogar eine „Altenbar“ ist vorhanden, mit einem offenen Kamin und Bildern von Che Guevara. Die Küche bietet ausgezeichnete Pasta, zu „politischen“ Peisen natürlich; dann ist da das Kino und der Konzertsaal, auch Raum zum Übernachten.

Paradoxerweise will die seit vier Monaten von den Ligen gestellte Stadtverwaltung das Fixer- feindliche Zentrum nun ausgerechnet mit der Begründung schließen, es sei ein Nest Drogenabhängiger und Gewalttätiger. Aus dem „Leonka“ wurde ein Monster gemacht.

Gerade der Schließungsversuch jedoch hat nun plötzlich wieder ein politisches Instrument geschaffen, unverhofft sozusagen. 1989 hatte die seinerzeitige sozialistische Stadtverwaltung schon einmal versucht, das Zentrum aufzulösen – die Besetzer hatten sich damals rundum auf den Boden gelegt. Proteste aus dem ganzen Land hatten die Räumung verhindert, es war der erste Mailänder Einbruch der damals scheinbar noch unumschränkt in Italien herrschenden Altparteien.

Die Reaktion auf das schon mehrmals angekündigte Ultimatum des neuen Liga-Bürgermeisters Formentini ist gespalten. Auf der einen Seite wehren sich die BewohnerInnen jener Viertel, wohin die zerstückelten Bestandteile des „Leonka“ ausgelagert werden sollen. Die Vorurteile gegen angebliche Drogensüchtige und kriminelle Immigranten erweisen sich als Bumerang. Der Bürgermeister findet für die immerhin mehreren tausend „Leoncavallisti“ keinen alternativen Platz. Auf der anderen Seite hat sich erstmals eine bisher nie zustandegekommenen Allianz aller linken Gruppierungen – von den beiden KP- Nachfolgeorganisationen PDS und „Rifondazione comunista“ über die Grünen bis hin zur Anti- Mafia-Vereinigung „Rete“ des Formentini-Gegenkandidaten Nando Dalla Chiesa – gebildet. Sie benutzt das Zentrum nun, um Formentini vorzuführen. Sie zeigen den Bürgermeister einerseits als unmenschlichen Kulturzerstörer, andererseits als handlungsunfähigen Maulhelden.

Einer der ersten, der die hier wachsende neue Struktur linker Zusammenarbeit erkannte, war wiederum Regisseur Salvatores: Er hat seinen Film „Sud“ ausdrücklich dem „Leonka“ zur Erstaufführung angeboten. Das stärkt die Verhandlungskraft der „Leoncavallisti“ gegenüber der legistischen Stadtverwaltung beträchtlich.

Innerhalb des Leoncavallo hat derlei Anerkennung allerdings gleichzeitig wieder heftige Diskussionen ausgelöst. Salvatores' Schritt gilt vielen als schlitzohriges Propagandamanöver für seinen Film. Die – von der Mehrheit akzeptierte – Reklame mit dem Zentrum sei eine unzulässige und auf Dauer verderbliche „Öffnung“ nach außen, heißt es bei dieser Kritik.

Tatsächlich kommt der Protest gegen die „Marktöffnung“ jedoch eher von draußen – von Zentren außerhalb Mailands. „Officina 99“, ein Sozalzentrum aus Neapel, hat einen scharf formulierten Brief an die linke Tageszeitung Il Manifesto geschickt und darin die Operation Salvatores' als „gefährliche Verunreinigung“ gebrandmarkt.

Die „Leoncavallisti“, selbst uneinig, reagieren auf die offenen Fragen fast schon wie die große Politik: Sie haben jegliche Entscheidung verschoben. Erst auf einer Art Gipfeltreffen aller „Centro sociali“ Italiens, das in den nächsten Wochen stattfinden soll, wollen sie sich festlegen. Nun könnte es allerdings sein, daß ihnen bis dahin eine Polizeiaktion Formentinis zur Räumung des „Leonka“ zuvorkommt.

Die Autorin ist Redakteurin von Il Manifesto