Alleiniges Kriterium: für oder gegen Jelzin

107 Millionen Russinnen und Russen sind am nächsten Sonntag aufgerufen, ihre Volksvertreter zu wählen. Im Kampf um das Wahlvolk spielen ausdifferenzierte Parteiprogramme keine Rolle.

An Statistiken herrscht in Moskau kein Mangel – über den beliebtesten Politiker, die aussichtsreichste Partei, die Reformfreudigkeit der zukünftigen Abgeordneten und auch über die Befindlichkeit des Wahlvolks. Der Erkenntnisgewinn jedoch, den diese Untersuchungen zu vermitteln versuchen, nimmt proportional mit der Zahl der Meinungsumfragen ab. Sieht die eine „Erhebung“ die linkskonservative „Agrarpartei“ als zweitstärkte Fraktion der zukünftigen Staatsduma, so berechnet eine andere ihre Chancen lediglich auf 1,7 Prozent. Und während fast alle Institute den Reformblock „Wahl Rußlands“ als eindeutigen Wahlsieger sehen, zählen ihre Spitzenkandidaten nicht gerade zu den Lieblingen der Russen.

Die Erklärung für diese Unstimmigkeit ist einfach und kompliziert zugleich. Die „Wahl Rußlands“ ist, daraus hat Boris Jelzin nie einen Hehl gemacht, seine eigene Wahl. Wer für Jelzin ist, ist auch für die „Wahl Rußlands“. Nicht zuletzt kommt dies auch in dem Symbol des erst Mitte Oktober geschmiedeten Wahlbündnisses zum Ausdruck: Peter der Große gilt vielen Russen als Vorbild Jelzins, steht er doch für die – nicht unerwünschte – autokratische Herrschaft sowie die „Westorientierung“ des Präsidenten.

Andererseits ist die „Wahl Rußlands“ aber auch die Partei all derjenigen, die als Mitglieder der Exekutive in Moskau und in den Regionen die Reformideen Jelzins umsetzen müssen – und die sich dabei natürlich nicht gerade beliebt gemacht haben: Vizepremier Jegor Gaidar, Hauptverantwortlicher für den strikten monetaristischen Kurs, Privatisierungsminister Anatoli Tschubais, Finanzminster Sergej Fedorow und Außenminister Andrej Kosyrew zählen zu den Spitzenkandidaten.

Die amtierenden Minister haben aus ihrer Not inzwischen eine Tugend gemacht: „Die anderen reden nur, die ,Wahl Rußlands‘ handelt“, dieser Slogan ist bei den Vorstellungen der einzelnen Kandidaten am häufigsten zu hören. Nicht ohne Grund hält man das Fehlen eines konkreten ökonomischen Programms gerade jenen politischen Konkurrenten vor, die zwar für Reformen sind, aber außerhalb der Regierung und damit der Verantworung stehen: Der Wahlblock „Jawlinski-Boldyrew-Lukin“ liegt in der Wählergunst nur knapp hinter der Gaidar-Partei.

Zweites Wahlkampfthema der „Wahl Rußlands“ ist konsequenterweise auch die „Zersplitterung der demokratischen Kräfte“. Denn neben der Partei des Präsidenten gibt es noch mindestens zwei Gruppierungen, die seine Politik bisher unterstützt haben, jetzt jedoch versuchen, einen eigenen Weg zu gehen. Auf ein „Rußland der Regionen“, auf „Familie, Privateigentum und Staat“ setzt Sergej Schachrai, der Nationalitätenbeauftragte der russischen Regierung. Meinungsumfragen sehen ihn knapp über der Fünf-Prozent- Hürde. Offiziell geht es ihm um eine Vertretung der Interessen der einzelnen Subjekte der Russischen Föderation. Tatsächlich hat er jedoch wohl mehr seine eigenen Interessen im Blick. Obwohl er wiederholt verkündet hat, nicht für das Amt des Staatspräsidenten zu kandidieren, bereitet er sich schon heute darauf vor. Zunächst aber will er Vorsitzender des Parlaments werden.

Ausdifferenzierte Parteiprogramme spielen in diesem Wahlkampf keine Rolle, „denn“, so der Vorsitzende der Liberaldemokraten, Vladimir Shirinowski, „da man nicht weiß, was morgen ist, kann man auch kein Programm haben“. Statt dessen konzentrieren sich die Lieder und Bilder der Wahlspots auf die Heimat „Rossija“ – Rußland. Und auf seine Jugend. Und auf seine Männer. Denn erst diese geben den einzelnen Parteien ihr Profil. Und so spricht man dann auch nicht von der Liberaldemokratischen Partei oder gar von der „Russischen Bewegung für demokratische Reformen“, sondern von der Shirinowski-Partei oder Partei des (St. Petersburger Bürgermeisters) Sobtschak. Frauen tauchen im politischen Leben Rußlands dagegen kaum auf. Eine Parteivorsitzende hat nur ein einziger Wahlblock: die Vereinigung „Frauen Rußlands“. In dem als „zentristisch“ eingeschätzten Bündnis haben sich unter anderem die „Unternehmerinnen Rußlands“ und die „Frauen in der Marine“ zusammengeschlossen.

All diejenigen WählerInnen aber, die sich die Namen der Vorsitzenden der 13 zu den Parlamentswahlen zugelassenen Bündnisse gar nicht erst merken wollen, treffen eine ganz einfache Unterscheidung: Für sie gilt allein das Kriterium „Für oder gegen Jelzin“. Aus dem breiten Spektrum der Parteien und Organisationen, die in- und außerhalb des Obersten Sowjet gegen den Präsidenten kämpften, sind in erster Linie zwei übriggeblieben: die Kommunistische Partei der Russischen Föderation, mit 500.000 Mitgliedern noch immer die bestorganisierteste Partei des Landes, und die „Agrarpartei“, in der sich vor allem die Vorsitzenden der Kolchosen eine Machtbasis zu verschaffen versuchen. Bei beiden Organisationen ist fast sicher, daß sie die Fünf-Prozent-Hürde nehmen werden.

So ist es KP-Chef Gennadi Sjuganow in den letzten Wochen nicht gerade leichtgefallen, seinen Anhängern zu erklären, warum die Partei die Wahlen als undemokratisch ablehnt, sich aber dennoch an ihnen beteiligt. Andere kommunistische Organisationen, wie etwa die Allrussische Kommunistische Partei der Bolschewiki, haben dann auch angekündigt, nicht für Sjuganow zu stimmen. Ein Teil der nationalistischen Organisationen der „rot-braunen“ Jelzin-Gegner wollte keine gemeinsamen Kandidatenlisten – „das können wir unseren Wählern nicht zumuten.“

Und so scheint es, als habe sich die politische Diskussion Rußlands seit dem Oktoberputsch deutlich verändert. Für eine Wiedererrichtung der Sowjetunion plädiert heute keine der größeren politischen Organisationen mehr – zumindest nicht vor den Fernsehkameras. Statt dessen geht es um Tempo, Form und Folgen der Reformen. Die soziale Sicherheit ist Thema aller Parteien, selbst Gaidar macht hier keine Ausnahme. Doch sind es vor allem die „Agrarpartei“ und die „zentristische“ Bürgerunion, die Interessenvertretung der Staatsbetriebe, die mit ihrer Forderung nach Subventionen von Grundnahrungsmitteln und Industrieproduktion in erster Linie ihre eigene Klientel im Blick haben. Sabine Herre, Moskau