■ CDU-Wahldebakel in Brandenburg: Die Talfahrt geht weiter
Die erste Wahlentscheidung im Osten seit dem Ausnahmejahr 1990 hat die unbehaglichen Erwartungen aus dem Unionslager voll bestätigt. An die eindrucksvollen Wahlsiege auf allen politischen Ebenen, die die CDU damals in den neuen Ländern erreichte, weil die Mehrheit der Bevölkerung allein der Partei des Kanzlers den sicheren Übergang in die westliche Wohlstandssphäre zutraute, läßt sich heute, auf der Höhe der Vereinigungskrise, schwerlich anknüpfen. Im Gegenteil, die aus unrealistischen Erwartungen gespeiste Zustimmung schlägt unter den Bedingungen gesamtdeutscher Rezession und weitverbreiteter sozialer Verunsicherung in ihr Gegenteil um. Der Einheits-Bonus aus dem Jahr 1990 wurde in Brandenburg zum Enttäuschungs-Malus. Damit liegt das Ergebnis vom Sonntag im bundesweiten Stimmungstrend. Auf über zehn Prozent belaufen sich die Verluste der Union. Daß sie immerhin die Zwanzig-Prozent-Hürde knapp überspringen konnte, ist so ziemlich der einzige Anhaltspunkt für aufbauende Ergebnisinterpretation. Im Osten, so scheint es, steht der Union eine lange und schwierige Reorganisationsphase bevor. Jetzt rächt sich, daß nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die CDU an die Illusion des bruchlosen Übergangs glaubte. Die Umetikettierung der Block-CDU jedenfalls hat sich nicht bezahlt gemacht.
Die Befürchtung, bei den Kommunalwahlen in Brandenburg werde sich die Enttäuschung des Vereinigungsprozesses in allgemeiner Politikverdrossenheit Luft machen, hat sich am Sonntag nicht bestätigt. Die Schwierigkeit bei der Aufstellung der Kandidaten für die 18.000 Ämter und Mandate war kein Indikator für allgemeine Politikabstinenz. Die Wählerinnen haben die Union gezielt bestraft, den Trend abschmelzender Akzeptanz der beiden großen Volksparteien jedoch nicht bestätigt. Die Sozialdemokraten können ein Plus von sieben Prozent verbuchen und ihre Stellung als dominante Partei im Land weiter ausbauen. Daß auch die sozialdemokratisch geführte Landesregierung gegen die allgemeine ökonomische Depression kaum etwas ausrichten konnte, schlug für die SPD nicht negativ zu Buche. Demgegenüber scheint sich, zumindest unter wahltaktischen Gesichtspunkten, der innerparteiliche Rückhalt für Ministerpräsident Manfred Stolpe nachhaltig ausgezahlt zu haben.
Von Stolpe läßt sich denn auch bruchlos zum eigentlichen Wahlsieger überleiten. Während sich die Union heute der im Einheitsjahr aufgenommenen Hypothek konfrontiert sieht, darf sich die PDS über ein Revival freuen, das 1990 wohl niemand für möglich gehalten hätte. Der Negativtrend scheint gebrochen: Gewinne von fünf Prozent im Landesdurchschnitt, in den städtischen Gebieten erreicht die SED-Nachfolgepartei sogar um die 30 Prozent. Für die 23 Prozent, die die PDS benötigt, um 1994 die bundesweite Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen, kann Gregor Gysi seit gestern werben, ohne sich von vornherein der Lächerlichkeit preiszugeben. Der Rückgriff auf mehr und erfahrenere Politiker in den neuen Ländern macht die PDS konkurrenzfähig. Doch man wird die Verantwortung der Union für die politische Entwicklung im Osten kaum überinterpretieren, wenn man auch die PDS-Gewinne wesentlich auf das Konto ihrer Politik unerfüllbarer Versprechungen verbucht. Der Gestus fundamentaler Opposition verbunden mit verschämt-verklärender Rückschau jedenfalls hat in den neuen Ländern Konjunktur.
Für die Bonner Debatte sind Kommunalwahlergebnisse von begrenzter Bedeutung. Doch gilt diese Regel eher für normale Zeiten und deshalb kaum für die aktuelle bundespolitische Situation. Nach dem Heitmann-Debakel und der als Regierungskrise fortdauernden Gehaltsaffaire in Sachsen-Anhalt gerät das Brandenburger CDU-Debakel zum neuerlichen Tiefschlag für Helmut Kohl. Sein Erklärungsnotstand, wie er und die Koalition das Wahljahr 94 zu überstehen gedenken, wächst. Befreiungsschläge sind nicht in Sicht. Matthias Geis
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