Raum für Notizen

■ „Laufend durchs Leben“: ein neuer Gedichtband der Bremer Autorin Gülbahar Kültür / Heute Lesung in der Zentralbibliothek

Ein Vorwort im Gedichtbändchen, „das ist ja oft so wie eine Gebrauchsanweisung“, sagt Gülbahar Kültür. Aber Anweisungen sind nicht ihre Sache. Also kein Vorwort. Stattdessen hat sie in ihren neuen Buch „Laufend durchs Leben“ eine leere Seite eingefügt. Die Autorin „wünscht sich, daß Sie hier Ihre eigenen Gedanken zu den Gedichten notieren“. Den Gebrauchswert der Lyrik müssen die Leser selbst herausfinden. Und so ist das ganze Buch: eine Einladung, selbst auf Erkundung zu gehen, mit Gülbahar Kültürs melodischer Lyrik im Gepäck.

Zu gebrauchen ist das Buch also z.B. als Orientierungshilfe. Um Räume zu erkunden, genauer auszuleuchten, in die man ansonsten (lieber) nicht so genau hineinschaut. Räume, in denen Kindheitserinnerungen verstauben, in denen alltägliche Sehnsüchte und Leidenschaften hausen, deren Wesen uns allerdings meist ziemlich fremd ist. „Wie war das noch?“, fragt der Titel eines Liebesgedichts, in dem der ganze, seltsame Liebens- und Leidensprozeß nochmal rekonstruiert wird. Bruchstück für Bruchstück, mühsam, lückenhaft.

Einigen Gedichten sind Fotografien von Margarethe Rosenberger beigefügt. Das erste zeigt eine Mauer: poröse Backsteine, etwas wackelig aufgeschichtt; tragend zwar, aber voller Brüche, Ecken und Kanten. So ist die Architektur der Räume, der Worte in Kültürs Lyrik. Ihre Steine ergeben kein komplettes, wohlabgrundetes Gebilde. Und die Räume werden nur ein wenig erhellt. Aber keiner wird abgeschlossen. Zwischen den Steinen bleibt vieles offen für die eigenen Geschichten, die eigenen Bilder und Worte.

Diese Art von Offenheit gegenüber den Lesern (und ihrem Umgang mit Lyrik) bedeutet nun nicht, daß Kültürs Sprache irgendwo im Ungefähren bleibt. Ihre Mehrsprachigkeit hat offenbar das Bewußtsein für die Mißverständlichkeiten der deutschen Sprache geschärft. Kültür schreibt präzise, und rümpft dabei immer noch etwas skeptisch die Nase über die „geschmacklose Artikelsuppe“ des Deutschen. So bleibt sie auch in ihren verwegensten und leidenschaftlichsten Metaphern genau im Bilde.

So nimmt die Einsamkeit plötzlich Geruch an, so bekommt die Grausamkeit Beine. Und die Worte werden lebendig. Da haben auch die gelegentlichen Ausflüge ins Pathos auch gar nichts Jammervolles und Peinliches. Und manchmal schreibt Kültür auch einfach Klartext, wie in ihren „Liebkosungen für Faschisten“:„Wenn Beten/ einen Sinn hätte/ wärt ihr/ längst in der Hölle.“ Thomas Wolff

Foto: Margarethe Rosenberger

„Laufend durchs Leben“, Edition CON, 18 Mark. Lesung in der Zentralbibliothek Schüsselkorb 15/16 heute um 20 Uhr.