"Man muß die Taubstummen lieben"

■ Eine Ausstellung zeigt die Geschichte der Israelitischen Taubstummenanstalt Berlin-Weißensee / Ab 1933 galten die dort lernenden Kinder in zweifacher Hinsicht als "minderwertig": taubstumm und jüdisch

Menschen, die von Geburt an nicht hören können, leben in einer anderen Welt. „Im Umgang mit Fremden habe ich den Eindruck, daß die Fremden andere Wesen für mich darstellen als ich selbst, so ungefähr, als ob sie Marsbewohner wären, oder besser, als ob ich Marsbewohner wäre.“

Diese Zeilen schrieb 1927 der Student Wladislaus Zeitlin. Die Tür zur Welt hatte ihm die Israelitische Taubstummenanstalt Berlin- Weißensee aufgestoßen. Dessen Leiter Felix Reich hatte die Begabung des Jungen früh erkannt und einen berühmten Förderer für ihn gefunden: Albert Einstein.

Dank seinem Engagement absolvierte Wladislaus Zeitlin als erster Gehörloser Deutschlands das Abitur mit Auszeichnung und konnte sich an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg immatrikulieren. Trotz seiner Behinderung lernte er vier Sprachen reden und schreiben und entwickelte sich zu einem bekannten Physiker. Er war der bekannteste Schüler, den die Israelitische Taubstummenanstalt je hatte. Gegründet wurde sie vor genau 120 Jahren von Markus Reich, dem Vater von Felix Reich.

Damals galten gehörlose Menschen noch als „Idioten“ und wurden ihr Leben lang als Minderjährige behandelt. Eine allgemeine Schulpflicht für Taubstumme wurde erst 1911 eingeführt, und die einzige Institution, die sich von Geburt an um Gehörlose kümmerte, war im 19. Jahrhundert die christliche Kirche. Jüdische Kinder hätten konvertieren müssen, um von ihnen betreut zu werden.

Markus Reich wollte jüdische Kinder dem Glauben nahebringen, sie zu selbständigen Menschen erziehen und von der Wohlfahrt unabhängig machen. Er ließ sich deshalb in christlichen Schulen als Taubstummenlehrer ausbilden und gründete 1873 in Fürstenwalde/Spree die erste jüdische Taubstummenanstalt.

Es war eine Art Internat, die Schüler und Schülerinnen lebten und lernten im Kreis der Familie. „Man muß die Taubstummen lieben, dann versteht man sie, dann ist es nicht schwer, sie zu erziehen und zu unterrichten“, hatte Markus Reich gesagt und damit Erfolg gehabt. Er gründete einen Hilfsverein, fand großzügige jüdische Sponsoren.

Und kurz vor dem Ersten Weltkrieg konnte die Schule nach Berlin umziehen – in einen dreistöckigen Klinkerbau mit großem Garten in der Weißenseer Parkstraße. Das Gebäude steht immer noch, seit der Wende betreibt dort die Stephanus-Stiftung ein Heim für körperlich behinderte Kinder. Davor residierte im Haus die SED- Kreisleitung.

Nach Markus Reichs Tod übernahm sein Sohn die Leitung des Hauses. Unter seiner Regie entwickelte sich die Anstalt „zu einer der bestausgestatteten Einrichtungen ihrer Art im Deutschen Reich“ (Inspektionsbericht von 1915). Die Kinder lernten nach den modernsten Methoden der Gehörlosenpädagogik sprechen, dazu den normalen Schulstoff und eine handwerkliche Ausbildung. Sie wurden zu staatstreuen deutschen Juden erzogen. Sie strickten Socken für Kriegsfreiwillige und schlossen in ihre Gebete den Kaiser ein. 20 Jahre später nützte ihnen der Patriotismus nichts mehr. Ab 1933 galten sie in zweifacher Hinsicht als minderwertig: taubstumm und jüdisch zugleich. Die eifrigsten Gegner jüdischer Taubstummer waren die gehörlosen Nazi-Aktivisten, obwohl auch sie von Zwangssterilisationen (Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses) bedroht waren.

Am 9. November 1938 verhaftete die Gestapo Felix Reich und sperrte ihn in das Konzentrationslager Sachsenhausen. Als er dort einen Monat später wieder herauskam, stand sein Entschluß fest: raus aus Deutschland. Mit zehn Kindern fuhr er nach England und erhielt dort die Erlaubnis, auch die übrigen 22 Schüler sowie die Lehrer und Angestellten nach London zu bringen. Der Kriegsbeginn verhinderte den Plan. Eine Rückkehr war unmöglich, und in Deutschland begann die letzte Phase auf dem Weg in die „Endlösung“. Die Schule wurde im Oktober 1939 aus dem Vereinsregister gelöscht, der Unterricht ab 1942 verboten, die Anstalt geschlossen, die Kinder deportiert, und die Immobilie wurde an den Stadtbezirk Weißensee zwangsverkauft. Für einige Monate war das Haus noch Zwischenstation für gehörlose oder blinde alte Menschen auf dem Weg in das Konzentrationslager Theresienstadt.

Nach dem Krieg wurde am Gebäude eine Gedenktafel angebracht, die heute noch zu lesen ist: „Aus diesem Haus wurden 146 taubstumme jüdische Mitbürger 1942 durch faschistische Banditen verschleppt und ermordet. Den Toten zum Gedenken, den Lebenden zur Mahnung.“ Anita Kugler

Die Geschichte der Israelitischen Taubstummenanstalt ist noch bis zum 16. Januar in einer Ausstellung im 2. Stock des Martin-Gropius- Baus nachzulesen. Zusammengestellt wurde sie vom Jüdischen Museum und der Jüdischen Volkshochschule. Dazu ist ein reich bebilderter Katalog erschienen, „Öffne deine Hand für die Stummen“.

Der Autor des informativsten Aufsatzes, Horst Biesold, wird am 8. Dezember über die „Verfolgung der (insbesondere jüdischen) Gehörlosen im Nationalsozialismus“ sprechen. Ebenfalls bis zum 16. Januar ist im Gropius-Bau die Ausstellung „Zedaka“ zu sehen, eine Dokumentation über 75 Jahre Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland.