„Alles Gummi oder was?“

Wie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit „Aids-Aktionstagen“ versucht, Jugendliche, Lehrer, Krankenpfleger und Polizisten zu erreichen / Ärzte sind am ängstlichsten  ■ Aus Erlangen Bernd Müllender

„Grüß Gott, Herr Pfarrer.“ Der ältliche Gemeindegeistliche sieht noch einmal nach dem Rechten. Ob alles soweit in Ordnung sei? Danke schön, ja. Alles bestens. Kein Grund zur Sorge. Und so trollt sich der Pfarrer beruhigt wieder nach oben zum Witwen-Bibelkreis. Unten, im Erlanger Jugendtreff „Bandwurm“, ist das Thema weltlicher: Aids. In den nächsten beiden Stunden wird von „Körperflüssigkeiten“ die Rede sein, von „Geschlechtsorganen“ und „Eintrittspforten“ und der Gefahr, „in den Austausch mit Sekreten zu kommen“.

Wir sind in Bayern. In Räumlichkeiten der katholischen Kirche. Und eine Behörde, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BGzA), hat geladen zu „Informationen und Gesprächen über Freundschaft, Liebe...“ Sakra! Klingt das alles nicht nach dem Charme von Reihenuntersuchungen, nach miefigen Amtsarztautoritäten und gnadenlos christlicher Verklemmtheit?

Doch schon der Name der Veranstaltung wirkt überraschend sündig: „Alles Gummi oder was?“. Ursula und Christine, die beiden Referentinnen, finden schnell Vertrauen und Kontakt. Locker geht es zu bei Cola und Bananenkirschsaft. Die Jugendlichen geben sich alterstypisch cool und souverän; und sie kichern keck-verschämt, als eine von ihnen zum ersten Mal das Wort Sperma in den Mund nimmt. Sie schimpfen über das Versagen der Schulen: „Die Biolehrer sind doch alle überfordert“, sagt eine. „Den Lehrern ist Sex und Aids doch peinlich“, sekundiert ein zweiter, „da schiebt einer die Verantwortung auf das andere Fach“. Und sie haben Fragen über Fragen: Ansteckungsgefahr beim Küssen, über Zahnbürsten, Muttermilch, Trinkgläser... Und was ist mit dem Mückenstich?

Wo das Aids-Virus eigentlich herkommt, fragt Christine. „Von der Seekuh oder so“, sagt ein Gymnasiast. Die Verwechslung (Na ja, halt irgend so ein Viech“) mit der Grünen Meerkatze, einer Affenart, die vor Jahren – fälschlich – der HIV-Übertragung auf den Menschen verdächtigt wurde, sorgt für beste Stimmung. Und noch eine Frage: Was passiere wohl, wenn Magenbluter Sperma schlucken?

„Alles Gummi oder was“ ist eine von 25 Veranstaltungen bei der „Aids-Aktionswoche Erlangen“. Nicht Behördenmenschen sind gekommen, sondern „Präventionsberater“, MitarbeiterInnen der von der Kölner Bundeszentrale beauftragten Agentur ABC/ Eurocom: Pädagogen, Psychologinnen, Sozialarbeiter. Ihr Tun nennt sich „dialogorientierte Aufklärungsarbeit“. Es gilt Jugendlichen verschiedener Altersgruppen und Berufsgruppen wie medizinischem Personal, Polizei und Lehrern. „Die personalkommunikative Aids-Aufklärungskampagne“ soll eine „Ergänzung und Vertiefung der massenmedialen Aufklärung“ sein – dazu zählen, neben Broschüren und Plakaten (mit dem Slogan „Gib Aids keine Chance“), vor allem die kondomwerbenden Fernseh- und Kinospots.

Zeit für praktisches Arbeiten im „Bandwurm“. Kondome werden ausgepackt, befühlt, befummelt, auf einer Cola-Flasche ausprobiert. „Dürfen wir das hier überhaupt?“ fragt eine, mit scheuem Blick Richtung Tür, wo der schwarze Mann auftauchen könnte. „Der weiß doch gar nicht, was das ist...“ Und nach dem Gebrauch: gelber Sack oder Biotonne? Kann auf den Kompost, alles verrottbare Materialien.

„Durchweg gute Erfahrungen“, so Rebecca Vehling von der ABC, haben die Beratungsteams mit den Kooperationspartnern vor Ort gemacht: Gesundheitsämter, Schulen, Jugendzentren, lokale Aids- Hilfen, Wohlfahrtsverbände, manchmal große Firmen und die Kirchen. Und da – weg mit den Klischees – durchaus auch mit der katholischen. Deren römischer Oberguru kann noch so sehr wider des Leibes Sündhaftigkeit anbeten – hier und da gibt es aufgeschlossene katholische Geistliche, mit denen man zusammenarbeiten könne.

„Wie sag' ich's meinen Schülern“ – heißt das dreistündige LehrerInnenseminar. Auch die Berufspädagogen haben Fragen, Fragen, Fragen. Die Virus-vollgesaugte Mücke fliegt auch hier – diesmal raffinierterweise auf eine offene Wunde. Über (die eigene) Sexualität sprechen fällt schon deutlich schwerer. Einige schreiben mit ständig gesenktem Kopf lieber eifrig mit. Die Pauker haben von den billigen Täuschungsmanövern ihrer Schüler gelernt. Die Lehrer wünschen sich den „Erfahrungsaustausch, wie man mit Jugendlichen über das Thema spricht“. Oder „wie man es an die Schüler heranbringt“. Sexualität im Unterricht – welch ein Thema, auch noch anno 1993: Da müsse man doch vorher die Eltern kontaktieren, windet sich eine. Leibhaftige Kondome seien in freistaatlichen Klassen nicht erlaubt, verschanzt sich einer, und für Nacktpiktogramme (wie von den Kursleitern für eines der „sexualpädagogischen Programme“ vorgestellt) brauche man „schulbehördliche Genehmigungen“. Ein älterer Biologielehrer fragt: „Soll ich denn in der 8. Klasse schon über Sexualität reden?“ – „In der 6. anfangen ist schon zu spät“, kontert ein junger Kollege. „Man muß so viele Begriffe erklären“, glaubt einer. Sie selbst benutzen noch den Begriff „Risikogruppe“. „Analverkehr“, sagt einer, „da tun sich doch die in der 10. noch schwer...“

Die Bundeszentrale hat – das zu betonen ist allen Beteiligten in diesen Tagen äußerst wichtig – nichts mit dem Bundesgesundheitsamt zu tun. Wohl aber untersteht sie dem Gesundheitsminister. Und der sorgte während der Erlanger Aids- Woche mit seiner Forderung nach Massentests für großes Entsetzen bei den Teamern. „Eine Katastrophe: Damit wird das Vertrauen zu den Leuten schlagartig zunichte gemacht. Wir wollen“, sagt einer der Präventionsberater, „Hilfestellung zu Selbstverantwortlichkeit geben, unnötige Ängste abbauen, aufklären, und dann kommt so ein Hammer.“ Verschwiegenheit bei Seehofers angestrebten Routinetests wäre im Einzelfall Wunschdenken, wenn ÄrztInnen, Praxispersonal, Krankenkassen und Labors Bescheid wissen (und wehe, besonders in ländlichen Gebieten, geht das Tuscheln erst mal los). Plötzliche Positivbescheide treffen Infizierte unvorbereitet (mit allen seelischen Folgen, die erfahrungsgemäß bei Instabilen meist einen viel schnelleren Ausbruch der eigentlichen Krankheit zur Folge haben). Und die Automatiktests gaukeln den HIV-negativ-Getesteten wegen des „diagnostischen Fensters“ womöglich falsche Sicherheit vor. Mit dem „Fenster“ ist die Latenzzeit von mindestens acht bis zwölf Wochen nach der Übertragung des Virus gemeint, in der noch keine Antikörper nachgewiesen werden können.

Auffällig bei allen Seminargruppen sind die unzähligen Wissensfragen und Spitzfindigkeiten der abstrusesten Art. Ob nicht doch eine Ansteckung möglich ist: beim Mückenstich (Antwort: noch nie vorgekommen) oder beim Küssen (höchstens bei mindestens 48stündigem, beißendem Dauersaugen). Offenbar wollen die Menschen jedwedes Risiko absolut ausgrenzen und perfekte Sicherheit garantiert bekommen.

Mindestens hunderttausend HIV-Infizierte (plus Dunkelziffer) gibt es derzeit in Deutschland, von denen fast sechstausend bereits an den Folgen von Aids gestorben und weitere fünftausend derzeit akut erkrankt sind. Das Virus wird in etwa 80 Prozent der Fälle über Geschlechtsverkehr übertragen. Doch über Sexualität reden, erst recht die eigene, ist überall das große Problem. Die Sexuelle Revolution hat, so sie nicht immer überschätzt wurde, längst ihre Kinder gefressen, erst recht im Zeitgeist der Treue, der alten Werte und Moral. Erst der Sensibilität, der Erfahrung und dem psychologischen Geschick der BeraterInnen ist es zuzuschreiben, wenn die Gespräche, häufig über verschiedene Spiele, denn doch mal aufs Thema kommen und vom cleanen Medizinerjargon wegkommen zu lebensnäherem Vokabular: Schwanz, Möse, vögeln, bumsen, Lust, Liebe machen. Wenn die Teilnehmer das vorurteilsfreie Nachdenken anfangen, Bewußtsein auf- und Schranken abbauen.

Ein Präventionsberater erzählt von einem früheren Seminar mit Polizisten. „Mit Händen und Füßen“ hätten sich da „18 Bullen, die sich halt so besonders stark vorkamen“, um ihre ganz persönlichen Ängste, Gewohnheiten, Zweifel herumgewunden. „Statt dessen wollen die mir weismachen, wie gefährlich es sei, Junkies abzuklopfen.“ Männer unter Männern sind ein ganz schwieriges Feld. Rebecca Vehling hat irgendwann aufgegeben, mit Feuerwehrleuten zu arbeiten. „Dieses Schlüpfrige und Zotige, furchtbar. Alle sind unsicher und versuchen sich um so mehr zu produzieren.“

Am nächsten Tag bei MitarbeiterInnen des Erlanger Gesundheitsamtes. Kenntnisreiche Spezialisten? Nur wenige. Einer formuliert, die ABC-Trainer mögen hoffentlich „Bereitschaft zum Ertragen von Unkenntnis“ mitbringen. Eine bekennt, im November 1993, über zehn Jahre nach der Entdeckung des Virus: „Die Präventionsarbeit ist bei uns erst im Werden.“ Aber Bayern ist auch ein Sonderfall. Als die Bundesgelder für eine örtliche Aids-Fachkraft vor zwei Jahren ausliefen, ist der Freistaat (in Bayern sind die Gesundheitsämter nicht kommunal wie andernlands) nicht eingesprungen. Die Stellen sind seitdem abgeschafft.

Sssss. Und der Mückenstich? Ob es nicht vielleicht doch zu einer Übertragung kommen könne, wenn sie auf eine Wunde fliegt und genau da – klatsch – totgeschlagen wird?

Nach rund 350 Aids-Aktionswochen seit 1988 können die PräventionsberaterInnen regional sehr unterschiedliche Empfindlichkeiten ausmachen. Vor allem zwischen Ost und West. Im Osten, so Rebecca Vehling, werde über Sexualität durchweg lockerer gesprochen. „Dort gab es zu DDR- Zeiten viel weniger moralische und kirchliche Instanzen.“ Zudem sorgte die Mauer, sozusagen das große Kondom an der Grenze, für eine viel geringere Ausbreitung des HIV-Virus. Deshalb hat Aids noch nicht solch ängstliche Überreaktionen hervorgerufen wie bei den egoistischer orientierten Wessis. Und: PaukerInnen aus Neufünfland, so Vehling, seien spürbar interessierter als die manchmal bornierten, gelangweilten Lehrkörper im Westen.

Hochmotiviert waren in Erlangen die Auszubildenden der Krankenpflege. „Krankheit, die angst macht – Angst, die krank macht“, so der Titel ihres Vormittags. Die Runde teilt sich in einem Rollenspiel in HIV-Infizierte/Erkrankte und Pflegekräfte. Über ihre spontanen Angstphantasien sind sie selbst am meisten erschrocken. Etwa die Erkrankten: „Wenn es die Nachbarn erfahren, tuscheln...“ – „Ich habe niemanden, dem ich es sagen könnte.“ – „Schuldvorwürfe... Angst vor Isolation.“ – „Soll ich mich gleich umbringen...?“ Und die Pfleger: „Ich wäre überfordert zu trösten.“ – „Ich hätte sofort den Gedanken, wo hat der das wohl her...“ – „Ich stelle mir die Erkrankten ziemlich schmuddelig vor, wahrscheinlich schwul.“ – „Plasmaerkrankte wären die angenehmeren Patienten, die sind unschuldig...“

Bemerkenswert: Die Unsicherheit scheint um so größer, je konkreter bestimmte Berufsgruppen mit Aids zu tun haben. Der Umgang mit Aids-Patienten, sagt eine Schülerin, „war bei uns noch nie ein Extra-Thema im Unterricht. Ich wäre völlig hilflos.“ Am schlimmsten aber seien die Ärzte: Da ist der Stationsarzt, der immer zwei Paar Schutzhandschuhe übereinanderziehe. Ein anderer verteidigt die von ihm diagnostizierte Riesengefahr durch Tröpfchenübertragung wie seinen Doktortitel. Oder eine fragt, warum denn manche Zahnärzte Schutzbrillen tragen, um sich vor möglichen Blutspritzern zu schützen.

Ausgerechnet Ärzte, diese besonderen Gesundheitsautoritäten, wollen 110prozentige Sicherheit und machen aus Mücken Elefanten. Das hat zur Folge, daß alle anderen um so verunsicherter sind: Vielleicht lauert das Virus ja doch überall und will mich, ausgerechnet mich, hier und jetzt bespringen. Und die weißen Halbgötter können schlicht widerlich sein. Eine Schwesternschülerin erzählt vom Kaiserschnitt in der Vorwoche, als der Doc laut und rücksichtslos fragte, noch bevor die Betäubung wirkte: „Ist die etwa positiv?“

Gib Borniertheit keine Chance – der schwierigste Teil der Arbeit.