Knackwürste gibt's auch für die Toten

Überleben und sterben lassen: Gotcha – harmloser Sport oder paramilitärische Übung?  ■ Von Harald Hofmann

Vergeßt die kleinen und großen Katastrophen des Lebens: die nächste Steuererhöhung, das Ozonloch oder den Beziehungsstreß mit Freund oder Freundin. In einem Waldstück bei Großauheim bekommen solche Probleme einen anderen Stellenwert. Einmal pro Woche verwandelt sich die Welt im hessisch-bayerischen Grenzgebiet in Feindesland, die Komplexität des Alltags reduziert sich auf zwei Dinge: überleben und sterben lassen.

Umzäunt, 180 Hektar groß – der Truppenübungsplatz der US- Army in der Nähe von Hanau. Normalerweise proben dort amerikanische Soldaten den Dritten Weltkrieg oder eine neue UN- Hilfsaktion. Am Wochenende aber ist das Gelände für ein paar Dutzend Hobby-Kämpfer reserviert: Gotcha heißt das Kampfspiel. Eine martialische Version von Räuber und Gendarm für Erwachsene aus den USA.

Menschen aller Altersstufen robben hier mit Begeisterung im Militärlook über den Waldboden, suchen Deckung in Erdlöchern und feuern, was das Zeug hält. Nahkampfkitzel. Die Fahne des gegnerischen Teams wird zum Objekt der Begierde, die Gegner räumen sich mit Gelatine-Farbkugeln aus gasbetriebenen Maschinenpistolen aus dem Weg. Sieger ist, wer nicht erschossen wird und ohne Farbklecks am Körper die feindliche Fahne ins eigene Lager rettet. Schutzmasken aus „Krieg der Sterne“- oder Atomkastrophen-Szenarien halten die Verletzungsgefahr gering – der Reiz der Lebensgefahr ohne entsprechendes Risiko.

Rund 30 Gotcha-Spieler hetzen durch das Terrain und übersäen sich mit blauen, grünen und roten Kugeln. Ihre Frauen und Freundinnen sitzen derweil ein paar Meter weiter beim Kaffee und plaudern. Nebenan die Zuschauerbrücke und die Toiletten.

Moralische Bedenken wegen des Hobbys ihrer Männer haben sie nicht. Krieg? Nein, das sei doch nur ein Spiel und halte ihre Jungs fit. Außerdem: „Beim Fußball gibt es viel mehr Knochenbrüche.“ Ob das Spiel ihre Männer verändere? Da sind sich die Frauen einig: „Ja, meiner wird auch immer kindischer.“

Für eine rein kindliche Spielfreude legen die Männer jedoch viel Ehrgeiz an den Tag. Sie wienern und schrauben akribisch an ihren Knarren, einer schleppt sein umfangreiches Ersatzteillager in einem Metallkoffer heran. Da gibt es Zielfernrohre und Gewehrläufe in Tarnfarben zu bestaunen, auch finanziell geht der Sport weit über ein Taschengeldbudget hinaus: Profis blättern für eine komplette Ausrüstung um die 1.000 Mark auf die Ladentheke.

Das erste Spiel ist aus, die Helden kommen zurück. Verwegene Gestalten, hier ein Tattoo auf muskulösem Oberkörper, dort ein Rambo-Stirnband um den Kopf. Entspannte Atmosphäre, die Luft ist erst mal raus. Man gibt sich locker, von Aggressionen keine Spur. Ein hagerer Kämpfer erzählt von vergangenen Gefechten im Ausland und zieht dabei seine Lederhandschuhe aus. Die sind an den Fingerkuppen abgeschnitten, das sorgt für Feingefühl bei jedem einzelnen Schuß. In Macho-Pose – Lauf nach oben – prüft ein Neuling das Gewicht seiner Waffe. Nebenan brutzeln schon die Hamburger und Würstchen für die Mittagspause auf einem Grill. Stullen und Thermoskannen werden ausgepackt.

Anneliese Eichhorn ist Gotcha- Leiterin und gleichzeitig Inhaberin eines Waffengeschäftes in Aschaffenburg: „Die Spieler kommen aus allen sozialen Schichten“, erzählt sie. Frau Eichhorn kassiert die Teilnahmegebühr von 18 Mark pro Tag, verleiht Spielgerät und verkauft nebenbei Erfrischungen. „Bei uns spielen Schreiner, Angestellte, Fleischer, Ärzte und Studenten.“ Auch das moderne Management hat Gotcha für sich entdeckt: einige Firmen lassen ihre Abteilungen antreten, Außendienst schießt auf Innendienst. „Das fördert den Teamgeist“, weiß Frau Eichhorn.

In vielen Ländern ist Gotcha längst eine anerkannte Sportart: Hochmotivierte Teams treffen sich bei Europa- und Weltmeisterschaften. In England, den USA oder Belgien gibt es einige hundert Spielfelder, nur Deutschland hat seine Probleme mit der „sportlichen Betätigung in freier Natur“ – so die Definition laut Werbebroschüre. „Das liegt an der negativen und überzogenen Berichterstattung der Medien“, meint Gotcha- Schiedsrichter Bob, der sich an Frau Eichhorns Seite durchs Leben kämpft. Deutschlands dunkle Vergangenheit diskriminiere den Sport, die Berührungsängste seien groß. Trotz der derzeit vorherrschenden Skepsis wagt Bob eine Prognose: „In einigen Jahren wird sich über dieses Spiel niemand mehr aufregen.“

Vor einiger Zeit habe ein Fernsehteam von RTL-„Explosiv“ einen Bericht veröffentlicht und darin Gotcha mit dem Krieg in Jugoslawien in Beziehung gesetzt. Kopfschüttelnd meint Bob: „Vom ersten Satz an floß das Blut.“ Dabei handele es sich bei Gotcha um ein reines Mannschafts- und Punktspiel: „Nicht Brutalität, Köpfchen ist hier gefragt.“

Daß die Spieler in die Faschisten-Ecke gedrängt würden, sei besonders schlimm. „Wir sind normale Menschen, keine Rechtsextremisten“, sagt Frau Eichhorn. Gotcha sei ein Ausgleichssport, aber kein Sammelbecken für Militaristen. Aber: Man könne nicht von vornherein ausschließen, daß ein Nazi mitmache: „Spinner gibt es schließlich überall.“

Das Wort Krieg meiden die Wochenend-Fighter wie die Pest, militärische Abzeichen auf den Uniformen werden vor Spielbeginn abgeklebt. Die Gewehre heißen im Fachjargon „Markierer“, sogar die Naturschützer werden mittlerweile zufriedengestellt: die Kugeln sind biologisch abbaubar. Die Namen der Mitspieler bleiben geheim, „man weiß ja nie, wie der Bericht kommt“, erläutert ein 23jährige Blondschopf. Ein anderer verbittet sich Fotos. Begründung: „Ich hab' schon genug Schwierigkeiten.“

Die hiesigen Behörden, kritisiert Bob, treiben viele Spieler in die Illegalität: „Wir haben zwei Jahre gebraucht, bis unser Platz als erster im ganzen Land genehmigt wurde.“ Rund 2.000 Waffengeschäfte in Deutschland verkaufen pro Woche schätzungsweise vier Millionen Kugeln. Nach Bobs Ansicht sind einige tausend Bundesbürger der Gotcha-Spielsucht verfallen. Insgesamt gebe es derzeit lediglich drei oder vier legale Spielfelder in der Bundesrepublik, man könne sich ausrechnen, wie viele Gotcha-Fans sich im Wald tummeln.

Vier davon erwischte die Polizei beim nächtlichen Kriegsspiel in der Nähe von Kassel, sie waren ausgerechnet Polizeianwärter. Einer der Staatsbürger in Uniform gab an, er habe Lust am Ballern. Diese Offenheit führte prompt zu einem Disziplinarverfahren. Laut Gert- Uwe Mende, Sprecher des hessischen Innenministeriums, ist „bei Gotcha-Spielern der rechtsextremistische Hintergrund nicht auszuschließen“.

Dabei sehen die meisten Jungs auf dem Gelände bei Hanau eher nach Pfadfinderlager als nach Wehrsportgruppe aus: Ausländerfeindliche oder ewiggestrige Sprüche – Fehlanzeige. Nicht das Vierte Reich, sondern der Ausbruch aus dem einschläfernden Alltag treibt die meisten am Wochenende in den Wald. Zuviel in Deutschland ist bis ins letzte Detail organisiert, überall Konventionen und komplexe Regelsysteme: Eigeninitiative stört den reibungslosen Betriebsablauf, sogar „Individual- Reisen“ sind im Kompaktpaket erhältlich. Sicherheit schläfert ein.

„In unserer Gesellschaft fehlt es an überschaubaren Risiken“, glaubt Siegfried Preiser, Professor für Pädagogische Psychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt. Die Menschen suchten nach steuerbaren Risiken mit verständlichen Regeln. Gotcha sei ähnlich wie Bungee-Jumping, so der Spezialist für Spielpsychologie, ein Kompensationsmittel für unsere strenge Welt. „Wir haben zuwenig Raum für Naivität, kindliche Abenteuer und Entspannung“, erläutert Preiser.

Ähnlich wie „Cowboy und Indianer“-Spiele befriedigt Gotcha seiner Ansicht nach das menschliche Grundbedürfnis nach Verstecken und Auflauern: Das Spiel schaffe zudem Selbstvertrauen, führe zur „Entfaltung von Lebenskräften“ und fördere grundlegende Fähigkeiten des Menschen. [Ja, wenn man Menschsein mit Mannsein definiert! d.sin] Allerdings, ergänzt der Professor, müßte man solche Werte bei erwachsenen Menschen normalerweise bereits voraussetzen können. Es gehe aber nicht darum, die Spieler zu verurteilen. Sie seien Teil einer Gesellschaft, die durch Sprache und Rangabstufungen auf „Auseinandersetzung und Krieg angelegt ist“. Die Gewalt, so Preisers These, werde deshalb auch in Deutschland immer mehr zur akzeptierten Normalität.

Gerade das aber sei die Gefahr beim Gotcha: Vieles spreche dafür, daß das Spiel die Gewaltbereitschaft bei der Lösung von Alltagskonflikten erhöhe. Belegt sind die Abstumpfungseffekte von Gewaltszenarien: Aufzeichnungen von Brandanschlägen lösen bei Jugendlichen keine Betroffenheit mehr aus, in Horrorvideos gibt es schließlich viel härtere Brocken zu verdauen.

Gegenüber der Glitzerwelt der Musik- und Werbespots wirkt das echte Leben eben so aufregend wie ein hundertmal gespieltes Videospiel. Immer weniger Menschen sehen ihre Bewährungsprobe in den normalen Aufgaben des Alltags, als Ersatz dafür suchen viele außergewöhnliche Abenteuer und künstliche Hochspannung. Die durch nichts zu überbietende Sensation gibt es nicht bei den Bundesjugendspielen.

Die Gemeinschaft der Gotcha- Spieler, so Professor Preiser, sei deshalb sogar sinnvoll: Sie verhindere es, daß die vorhandene Gewaltbereitschaft des Menschen in falsche Kanäle gerate. Trotz der Bemühungen der Organisatoren, Gotcha als normalen Freizeitspaß zu etablieren, befürchtet Preiser in der Szene Rekrutierungsversuche aus dem rechten Lager. Die wären bei dem Milchgesicht mit stark ausgeprägtem Babyspeck eventuell von Erfolg gekrönt: Auf die Frage eines Mitstreiters nach seiner Uniform antwortet er: „Das ist eine SS-Nachbildung.“