Zielscheibe der Kritik in eigenen Reihen

PLO-Chef Arafat, der gestern zu seinem ersten Besuch in Deutschland eintraf, gerät seit dem Alleingang bei den Verhand- lungen zum „Gaza-Jericho-Abkommen“ mit Israel zunehmend wegen seines undemokratischen Führungsstils ins Kreuzfeuer der Kritik – nicht nur der Palästinenser in den besetzten Gebieten, sondern auch der Funktionäre seiner Organisation.

Für Jassir Arafat wird die Luft innerhalb der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) immer dünner. Seit einem Monat sammeln Mitglieder der Palästinensischen Volkspartei (PPP) in den von Israel besetzten Gebieten und im Ausland Unterschriften gegen den autokratischen Führungsstil des PLO-Chefs. Vor einer Woche schloß sich auch die Palästinensische Demokratische Union (Fida) dem Aufruf an. PPP und Fida waren bisher neben der von Arafat geführten Fatah in der PLO die wichtigsten Unterstützer Arafats und des von ihm favorisierten „Gaza-Jericho-Abkommens“. In den letzten Wochen haben sich Arafat-Vertraute verärgert über dessen „Alleingang“ von ihren Funktionen bei der Realisierung des Abkommens zurückgezogen.

Auf Betreiben hochrangiger PLO-Funktionäre tagte am Wochenende in Tunis der Exekutivrat der PLO. Fünf Mitglieder des Rates, darunter das Fatah-Mitglied Mahmud Abbas, Jassir Abed Rabbo (Fida) und Sulaiman Nayab (PPP), hatten zuvor in einer Petition gefordert, Arafats Dominanz bei den Verhandlungen mit Israel ein Ende zu setzen. Besonders die Kritik von Mahmud Abbas lastet schwer auf Arafat. Der unter Palästinensern als Abu Masen bekannte PLO-Funktionär hatte in Oslo die Geheimverhandlungen mit Israel in die Wege geleitet. Gemeinsam mit dem israelischen Außenminister Peres unterschrieb er am 13. September in Washington das Abkommen.

Der Exekutivrat beschloß die Einrichtung eines Komitees zur Kontrolle der Verhandlungen mit Israel. Angeblich aus Zeitknappheit wurde die Benennung der Mitglieder dieses Gremiums auf Donnerstag vertagt. Der Rat formulierte erste Vorlagen für eine Art palästinensische Verfassung in dem künftig teilautonomen Gaza- Streifen und in Jericho. Mit ziemlicher Verspätung wurden auch Ansätze einer zukünftigen Wirtschaftspolitik diskutiert. Immerhin sollen die beiden Gebiete bereits im Verlauf dieses Monats unter PLO-Verwaltung gelangen.

Scharf verurteilte der Exekutivrat die Versuche Israels, den für den 13. Dezember vereinbarten Beginn des israelischen Truppenabzugs aus dem Gaza-Streifen und Jericho zu verschieben. Die Einhaltung des Datums gilt unter den Palästinensern in den besetzten Gebieten als Prüfstein für die Politik Jassir Arafats. Am Donnerstag will sich der PLO-Chef in Spanien mit dem israelischen Außenminister treffen, um auf Einhaltung des Termins zu drängen. PLO-Kreise kündigen zudem ein „Gipfeltreffen“ zwischen Arafat und dem israelischen Regierungschef Rabin für Sonntag, einen Tag vor Ablauf der Frist, an. In Israel heißt es dagegen, Arafat habe der Verschiebung längst zugestimmt.

In den besetzten Gebieten wird zunehmend scharfe Kritik an Arafat und den Vertretern seiner Fatah vor Ort geübt. Der PLO-Chef versuche, ausschließlich ihm gegenüber loyale Personen in die Institutionen der palästinensischen Selbstverwaltung zu schleusen. Fachliche Qualifikationen spielten bei der Auswahl praktisch keine Rolle. So mancher prophezeit eine Katastrophe, wenn sich ausländische Geldgeber und die Weltbank demnächst auf die Suche nach Ansprechpartnern machen, um die versprochenen zwei Milliarden US-Dollar effektiv einzusetzen.

In den letzten Wochen wurden in den Distrikten der besetzten Gebiete „Verwaltungshauptmänner“ der Fatah eingesetzt. Mitglieder der von ihnen kontrollierten Verwaltungsausschüsse sind ehemalige Fatah-Offiziere. Im Einvernehmen mit den israelischen Behörden haben diese Organe provisorisch die Regelung verschiedener Verwaltungsprobleme sowie innere Überwachungsaufgaben übernommen. Bei der Sitzung des Exekutivrats wurde Feisal Husseini aus Jerusalem zum Chef der Fatah für die gesamte Westbank ernannt. Zacharia Al Agha bekam den Gaza-Streifen zugeteilt. Hanan Aschrawi soll künftig das PLO-Büro in Washington leiten.

Fraglich bleibt, ob und unter welchen Bedingungen am 23. Juli 94 in Jericho und im Gaza-Streifen Wahlen stattfinden werden. Vor allem bei Intellektuellen in den besetzten Gebieten macht sich die Befürchtung breit, die „für das PLO-Establishment in Tunis charakteristische Korruption und Chaos“ könnten bald nach Jericho importiert werden. Ziad Abu Amr, Dozent an der Bir-Zeit-Universität in der Westbank, klagt fast ein Vierteljahr nach Unterzeichnung des Abkommens über Apathie in breiten Kreisen der Bevölkerung.

Vertreter palästinensischer Menschenrechtsorganisationen fürchten, daß demnächst im Namen von „Sicherheit und Ordnung“ oppositionelle Palästinenser unterdrückt werden. Mit besonderer Sorge blicken sie auf den Einmarsch der in den letzten Monaten in Ägypten und Jordanien in Blitzkursen ausgebildeten palästinensischen Polizei. Gegner Arafats fürchten, bald von uniformierten Palästinensern gejagt zu werden statt, wie bisher, von Israelis. Amos Wollin, Tel Aviv