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: Erster Anbau fürs „Museum der modernen Poesie“: abgeschlossen

Nichts gehört uns. Wir legen ein

wenig die Hand um die Hälse/

ungebrochener Blumen.

so Rainer Maria Rilke, am 28. Juni 1926, an und für Marina Zwetajewa. Die beiden Dichter – die so genau wußten, daß sie Dichter waren – lernten sich nie persönlich kennen, führten aber eine leidenschaftliche Korrespondenz von großer Vertrautheit. Jede Zeile dieser Briefe ist getragen von dem Bewußtsein, daß die Lyrik adelt, wen immer sie beschäftigt, und daß die so gewonnene Weltenferne (als Brecht seine „Hauspostille“ veröffentlichte, war für Rilke „Wesenswinter“) bewahrt werden muß. Dabei ist es nicht geblieben, obwohl die Weltenferne weiterhin eine internationale Eigenschaft der Poesie darstellt: In Joachim Sartorius' Vorstellung von Lyrikerinnen und Poeten in der taz gab es solche Stimmen wie auch lakonische, an der Empirie geschulte – und es gab Gedichte wie die von Mircea Dinescu, die neben allen anderen Qualitäten auch politisch sind.

Joachim Sartorius hat mit seinem „Anbau fürs ,Museum der modernen Poesie‘“, mit dem die taz im Herbst 1990 begann, eine Landkarte zeitgenössischer Dichtung gezeichnet: von Lettland bis China, von Ghana bis Finnland, von Deutschland bis Japan, den USA bis Rußland, von Polen bis Martinique. 48 DichterInnen, eine persönliche Auswahl von enormer Spannweite, auch solche, die zum ersten Mal in deutscher Sprache zu lesen waren. Vielleicht hat es mit dieser Auswahl zu tun, womöglich ist es aber auch eine substantielle Eigenart der gegenwärtigen Poesie, daß ihr Material häufig subjektiv, oft melancholisch, manchmal aggressiv, doch fast immer ernst ist: als brächte die Abdankung der Form zugleich eine größere Strenge der Inhalte mit sich, die Abkehr von allen Gegenständen, die dem Banalen benachbart sind.

Die taz hat in immer neuen Formen versucht, die Sprache der Nachricht zu durchkreuzen; das tägliche Gedicht auf der Titelseite war die deutlichste Konfrontation des so gehetzten Vaterlands (Zwetajewa über Deutschland, im Original Deutsch) mit dem poetischen Innehalten. Mit der heutigen Ausgabe schließt der „Anbau zum ,Museum der modernen Poesie‘“, der vergleichsweise diskret gefertigt wurde: eine Seite im Monat, einem Lyriker gewidmet, mit einem kleinen Portrait von Joachim Sartorius, dem wir an dieser Stelle für seine Aufbauarbeit sehr danken. Der „Anbau“ wird übrigens im nächsten Herbst beim Rowohlt Verlag Hamburg als Buch erscheinen. Sartorius' Reihe ist auch ein Beweis für die Internationalität dieser Gattung von Literatur, welche die denkbar radikalste und persönlichste ist, aber eben doch (und vielleicht darum) verstanden wird: besser vielleicht als die Nachricht, die sich so um Gemeinverständlichkeit bemüht und doch kontextabhängig ist. An der Wirkung der Lyrik haben naturgemäß die ÜbersetzerInnen den allergrößten Anteil: ihre Arbeit wird verläßlich unterschätzt, weshalb wir hier noch einmal, pauschal und unzulänglich, dafür Dank abstatten.

Marina Zwetajewa hat an der Übersetzbarkeit der Lyrik übrigens niemals gezweifelt: sie schrieb russisch, las französisch, streute deutsche Worte in ihre Gedichte und hielt die Nationalität der Sprache überhaupt für eine alberne Idee. Nationalität als Ausdruck des Besitztums, der in Besessenheit übergehen kann, verträgt sich ohnehin nicht mit der Lyrik:

Wir sind arm. Wir legen ein wenig die Hand um die Hälse /

ungebrochener Blumen. ES