Kein Sinn für preußische Pünktlichkeit

Fünf Tage vor dem geplanten Abzugsbeginn aus Jericho und dem Gaza-Streifen schickt das israelische Militär Verstärkung / US-Außenminister Warren Christopher hält sich bedeckt  ■ Aus Tel Aviv Amos Wollin

Einen Tag vor dem sechsten Jahrestag der Intifada, des Aufstands der Palästinenser in den besetzten Gebieten, bezogen gestern vor allem in der Westbank Verstärkungseinheiten der israelischen Besatzungstruppen Stellung. Die islamistische Hamas-Bewegung hat aus Anlaß des Jahrestages für heute zum Generalstreik aufgerufen.

Die israelischen Soldaten sollen Jagd auf militante Palästinenser machen und eine weitere Eskalation der Zusammenstöße zwischen israelischen Siedlern und Palästinensern verhindern. Die gegenseitigen Angriffe häufen sich, seitdem am Montag vermutlich Hamas- Anhänger als Rache für einen getöteten Palästinenser zwei Siedler erschossen hatten. Hamas hatte zuvor angekündigt, für jeden toten Palästinenser einen Israeli umzubringen. Gestern wurde bei Betlehem ein Siedler durch Schüsse eines Palästinensers schwer verletzt. Zu dem Anschlag bekannte sich die „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (PFLP).

Israelische Sicherheitskräfte nahmen in den letzten beiden Tagen zahlreiche palästinensische Aktivisten in „Präventivhaft“. Unter den Verhafteten sind vor allem Mitglieder der PFLP, der „Demokratischen Front zur Befreiung Palästinas“ (DFLP) und von Hamas, also jener Gruppen, die das Autonomieabkommen zwischen der PLO und der israelischen Regierung ablehnen. Kurz vor dem Stichtag 13.12. – dem vorgesehenen Abzugsbeginn der israelischen Truppen aus Jericho und dem Gaza-Streifen – seien „politische Demonstrationen der palästinensischen Opposition besonders unerwünscht“, erklärte ein israelischer Sprecher.

Unklar bleibt weiterhin, ob die israelischen Truppen termingerecht mit dem Abzug beginnen werden. Am Dienstag waren Überlegungen von Militärs laut geworden, am 13. Dezember zumindest eine Reihe symbolischer Schritte zu unternehmen. Dazu soll die Räumung einzelner Militärstützpunkte im Gaza-Streifen und eines Militärlagers in dem Flüchtlingslager Dschabaliya gehören. Hinter den Planungen wurde der Druck des US-Außenministers Warren Christopher vermutet, der seit Anfang der Woche den Nahen Osten bereist, um den Friedensprozeß zu retten. Gestern erklärte Christopher jedoch in Ägypten vieldeutig: „Wenn beide Seiten übereinkommen, daß sie ein paar Tage oder was für einen Zeitraum auch immer benötigen, um bestehende Probleme beizulegen, maßen sich die USA nicht an, dies abzulehnen.“ Für viele Palästinenser in den besetzten Gebieten ist die Einhaltung des Termins Prüfstein für die Vertrauenswürdigkeit des Abkommens mit Israel.

Eine halbamtliche Version der israelischen Position zum Stichtag 13. Dezember für die Unterzeichnung eines detaillierten Plans zur Umsetzung des „Gaza-Jericho- Abkommens“ weist darauf hin, daß die Zeremonie termingerecht stattfinden könne, wenn die PLO die israelischen Vorschläge uneingeschränkt akzeptiere. Die letzte Gesprächsrunde über die rund 100 Seiten umfassende israelische Vorlage soll heute in Kairo stattfinden. Strittig sind vor allem noch die geopolitische Definition von „Jericho“, die Überwachung der Grenzübergänge nach Ägypten und Jordanien und der militärische Schutz der Siedlungen im Gaza-Streifen.

Regierungskreise ind Jerusalem glauben, daß Teile des Abkommens mit der PLO bereits Mitte Dezember realisiert werden können, auch wenn sich beide Seiten bis dahin noch nicht auf einen umfassenden Plan geeinigt haben. So könnten israelische Polizisten und Beamte teilweise ihre Aufgaben übernehmen, auch wenn noch kein Dokument unterschrieben sei.

Obwohl Israels Regierungschef Jitzhak Rabin mehrfach betonte, für ihn sei „die Zeit der Gesten des guten Willens“ gegenüber der PLO endgültig vorbei, erwägt die isralische Regierung in den nächsten Tagen ungefähr 1.200 der rund 10.000 in israelischen Gefängnissen einsitzenden Palästinenser freizulassen. Darunter sollen vornehmlich Mitglieder der von Arafat geführten Fatah sein sowie andere Palästinenser, die nicht verdächtigt werden, das Autonomieabkommen abzulehnen.