Weihnachten aus türkischer Sicht

Für rund 150.000 Muslime in Berlin gibt es an den Weihnachtsfeiertagen „Zwangsurlaub“ / Viele machen den Kindern Geschenke, obwohl die Feiertage für sie nichts bedeuten / Oft treffen sich auch die Familien  ■ Von Petra Brändle

Alle Jahre wieder drängt sich das christliche Konsumfest omnipräsent ins Bewußtsein. Beim letzten warmen Sonnenschein schon schmelzen Schokomänner im Schaufenster, gleich darauf leuchten Sterne die nachttoten Fußgängerzentren aus, während die Briefkästen mit weihnachtlich aufgemotzten Prospekten überquellen. Keine Chance, dem Fest zu entkommen. Denn wenn es weihnachtet, weihnachtet es bekanntermaßen sehr. Auch für die rund 150.000 Muslime, größtenteils türkischer Nationalität, die in Berlin wohnen. „Ich erlebe es als aufgesetzten Zwang, das Fest mitzufeiern“, meint Șiringül. An Weihnachten werde deutlich, daß diese Gesellschaft eben noch lange nicht wirklich säkularisiert sei. Die Feiertage sind für die Kurdin „gezwungenermaßen arbeitsfrei“, Kneipen abends tot und die Stadt leer, weil alle, selbst jene aus ihrem (deutschen) Bekanntenkreis, die keinen Bezug zur Kirche haben, zu den Eltern und Verwandten nach Westdeutschland fahren. Mit Grauen erinnert sie sich an ihre Studentinnenzeit, als sie mit einer Syrerin über Weihnachten allein im Wohnheim war und von der evangelischen Gemeinde ein Essen für „den Rest“ organisiert wurde: „Eine Stimmung wie in der Bahnhofsmission!“

Ihrem sechsjährigen Sohn Yekta zuliebe „macht“ sie die christlich geprägten Feste heute jedoch mit, obwohl die Atheistin wirklich gar nichts damit verbindet. Yekta hat von seinem kurdischen Freund auch eine wunderbare Begründung, die für Geschenke spricht, übernommen: „Weißt du“, meinte dieser, „dieses Auge hier ist kurdisch, aber mein anderes ist berlinerisch. Und so ist es auch mit meinen Armen und Beinen.“ Das leuchtete Șiringül ein. Nun gehören Geschenke, ein geschmückter Tannenbaum und seit letztem Jahr auch ein Weihnachtsmann zum sogenannten „Heiligen“ Abend. Wunderlich bleibt für sie aber das hiesige Schenkritual: „Schenken ist hier viel individueller. Bei uns wird selten ein einzelner beschenkt, sondern immer eine Gemeinschaft“, oft gebe aber derjenige, der Anlaß zum Feiern hat. Werde einmal ein Präsent überreicht, sei es absolut unüblich, dieses gleich auszupacken. Das hält Șiringül noch immer so – sehr zum Befremden ihrer deutschen Bekannten. Manchmal jedoch vergißt sie die für Kinder der Geschenke wegen so wichtigen Feiertagstermine, so dieses Mal den Nikolaustag. Aber die Lehrerin dachte dran: Für die türkischen, überhaupt die nichtchristlich erzogenen Kinder brachte sie, als Weihnachtsfrau verkleidet, Schokolade mit. Solche Gesten schätzt Șiringül, vor allem, nachdem sie den Schmerz ihres Sohnes erlebt hat, der, „nur weil er schwarze Haare hat“, in einer Apotheke nicht das dort übliche kleine Weihnachtsgeschenk bekam. Sie selbst freut sich auch über Aufmerksamkeiten ihrer Nachbarin Anette, die zu Ostern mal ein Nestchen und zu Weihnachten einen geschmückten Zweig vorbeibringt. Schließlich weiß Șiringül, daß diese Gesten freundschaftlich, nicht missionarisch gemeint sind. Anette wiederum feiert mit ihrem türkischen Mann und den Kindern im März auch das türkische Zuckerfest und Newroz. Ihre Kinder werden künftig jedenfalls nicht so ratlos dastehen, sollten sie über muslimische Feste befragt werden, wie der türkische Jugendliche, den Anette zu Weihnachten befragt hatte. Seine Gegenfrage: „Weihnachten? Ist das nicht das Fest, bei dem Jesus am Christbaum getötet wurde?“

Auch wenn es keinen Bezug zum christlichen Ursprung des Festes gibt, bestätigt auch Anette, gestalten viele türkische Familien die Weihnachtsfeiertage „irgendwie besonders“. Einerseits der Kinder wegen, andererseits ist die Zeit, wenn alle frei haben, für Familientreffen besonders günstig.

Auch Cem kennt diese Tendenz: „Viele Familien machen an diesen Tagen etwas Besonderes – und wenn sie sich nur schöne Videofilme holen.“ Er selbst indes flüchtet, wie auch seine Eltern, seit Jahren aus der feiertagsgeprägten Stadt. Vorher aber nimmt er am Weihnachtsessen der türkischen Redaktion des Senders Freies Berlin teil – im griechisch-zypriotischen Restaurant.

Auch Bülent verläßt mit seiner (ostdeutschen) Freundin das weihnachtliche Berlin, „obwohl sie, was Weihnachtenfeiern angeht, wohl Nachholbedürfnisse hat. Sie will mir jedenfalls unbedingt was schenken.“ In seinem türkischen Bekanntenkreis jedoch gebe es keine Familie, die aus den christlichen Feiertagen für sich etwas Besonderes mache.

So hält es auch Nurdan, obwohl ihre Tochter deswegen im Kinderladen ausgiebig bedauert wird. „Die arme Ayshe“, sie könne „das wunderbare Fest nicht erleben“, mußte sich Nurdan anhören. „Das ärgert mich. Warum soll ich ihr etwas vermitteln, zu dem ich selbst als Atheistin überhaupt keinen Bezug habe?“ Freilich weiß sie, daß Ayshe es einst wohl anders machen wird, schließlich erlebt die Kleine Weihnachts- und Nikolausfeiern in der Kita. Geschenke bekomme Ayshe außerdem genügend, beispielsweise auch am Geburtstag der Mutter, „weil sie mein Leben so viel schöner gemacht hat“. Der Weihnachtsabend aber verlaufe ganz normal. Solange sie selbst dahinterstehe, vertritt Nurdan, könne es auch ihre Tochter verkraften, wenn sie an diesem Abend nicht beschenkt werde.

Dina Kohen vom Verein zur Förderung interkultureller Jugendarbeit in SO 36 dagegen weiß, daß die Kinderwünsche in vielen türkischen Familien das Fest bestimmen. Sie selbst begreift es als „gesellschaftliches Handeln, um nicht außen vor zu sein“, wenn sie am 24. abends Geschenke verteilt. Einen wirklichen Zwang, Weihnachten zu feiern, entdeckt sie jedoch nur bei ihren deutschen MitarbeiterInnen.