Unter Engeln

■ Der Berliner Fotograf Jürgen Baldiga ist tot. Als einfühlsamer Porträtist von Randfiguren der Gesellschaft wurde er in den letzten zehn Jahren berühmt

Wer geschwächt ist, den trifft der Winter besonders hart. Gegen die heimtückischen Cytomegalie- Viren in seinen Augen und seinem Magen hatte sich der Berliner Fotograf Jürgen Baldiga nicht mehr wehren können, am Morgen des 4. Dezember starb er in seiner Neuköllner Wohnung an den Folgen von Aids. Er wurde 34 Jahre alt.

Der Tod hat Jürgen nicht überrascht. Schon seit November 1983 wußte er, daß er HIV-positiv ist, und sein Arzt hatte ihm damals prophezeit, er habe nur noch ein oder zwei Jahre zu leben. Nun, es wurden zehn, in denen er allmählich seine Angst vor dem Sterben verlor. Beizeiten gab Jürgen Baldiga bei einem Steinmetz seinen Grabstein in Auftrag (aus schwarzem Marmor mit einer Knabenzeichnung Jean Cocteaus) und stellte ihn in seinem Wohnzimmer auf. Und ebenso suchte sich der gebürtige Essener den Schöneberger St.-Matthäus-Friedhof als letzte Ruhestätte aus – weil er mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu erreichen ist und zahlreiche weitere an Aids gestorbene Schwule dort begraben liegen.

So zynisch es klingt: Seinen Ruhm als Fotograf hat Jürgen Baldiga auch dem tödlichen Virus zu verdanken. Nach dem positiven Testergebnis fiel ihm ein Buch mit Bildern der amerikanischen Fotografin Diane Arbus in die Hände, das ihn inspirierte und ihm half, die Depressionen zu überwinden. Ohne fotografische Ausbildung zog der gelernte Koch fortan mit einer einfachen Spiegelreflexkamera durch Berlin und knipste, was ihm vor die Linse kam. Vor allem Menschen.

Jürgen war ein Naturtalent, aber ein absolut eigenwilliger Fotograf. Aufnahmen auf Bestellung oder Porträts von Personen, mit denen er nichts anfangen konnte, landeten zwangsläufig im Papierkorb. Voraussetzung für eine gelungene Session war eine fast mystische Vertrautheit zwischen ihm und seinem Modell. Aufs Fotopapier bannte er auf diese Weise Freunde wie Zufallsbekanntschaften: seine frühere schwangere Mitbewohnerin, den Penner aus der Zickenplatz-Klappe oder die alte Frau, die ihn beim Einkaufen ansprach und sich später vor ihm in die Badewanne legte.

Baldigas einfühlsame Porträts erzählen ganze Lebensgeschichten. In ihnen vermischen sich Ästhetik und Realität, an deren Konturen er beständig kratzte. Denn vornehmlich interessierten ihn die Randfiguren der Gesellschaft: Krüppel, Tunten oder Aidskranke. Auf sie vermochte er sich einzustellen, weil er sie verstand.

Jürgen liebte es, Tabus zu brechen – nicht nur mit seinen Fotografien. Für ein Interview mit einem Fernsehsender setzte er sich auf einen Sarg, und im Schwulen Museum stellte er sein in Harz gegossenes Kaposi-Sarkom aus. Um so mehr überrascht sein stiller Tod. Für den lauten, provokativen Aufschrei, den einige in der Schwulenszene erwartet hatten, besaß er nicht mehr die Kraft. Fast das ganze letzte Jahr verbrachte Jürgen im Bett oder im Krankenhaus und kümmerte sich zuallererst um sich selbst.

Anders als Melitta Sundström, die vier Tage vor ihrem Tod noch eine CD präsentierte, hat Jürgen Baldiga der Szene kein „Abschiedsgeschenk“ gemacht. Den 1992 erschienenen Bildband „Etwas Besseres als den Tod finden wir allemal“ (Edition diá) sah er zwar selbst als Höhepunkt seiner Veröffentlichungen, aber er hatte noch so viele Ideen. Unter anderem hing Jürgens Herz an einem Fotoband nur mit Engeln. Ein kleiner Trost, daß er nun von seinem Lieblingsmotiv umgeben ist. Micha Schulze

Die Trauerfeier für Jürgen Baldiga findet am 5. Januar um 12 Uhr auf dem St.-Matthäus-Friedhof in der Großgörschenstraße 12 statt