Allein unter den Augen Hunderter Männer

■ Frauen in naturwissenschaftlichen Fachbereichen sind immer noch eine Minderheit / Frauentutorien sollen an der TU den Studienalltag erleichtern

Als Marion* den Hörsaal betritt, drehen sich alle Köpfe zu ihr hin. 300 Augenpaare taxieren sie, während sie die Holzstufen hochsteigt und sich in einer der hinteren Sitzreihen niederläßt. Immer wieder dreht sich auch während der Vorlesung jemand zu der mittelgroßen Frau in Jeans, Sweatshirt und blauweiß-gestreiftem Blouson um. Marion verzieht keine Miene, blickt unverwandt auf den Professor, der an der Tafel die Spannungslinien eines elektrostatischen Feldes anzeichnet, oder notiert etwas in ihr Heft. „Anfangs waren diese Blicke reines Spießrutenlaufen“, sagt sie und streicht das jungenhaft kurze Haar zurück. „Jetzt merk' ich es nicht mehr.“

Marion ist eine von zehn Frauen in dieser Vorlesung, eine von 148 Studentinnen unter 2.486 Elektrotechnikstudierenden. Wie ihre männlichen Kommilitonen versucht sie, im Skript nachzuvollziehen, was der Professor an Folien auf dem Overheadprojektor erläutert. Gerade anderthalb Stunden braucht er für die Lehre von der elektrischen Ladung als solcher bis zum Meßverfahren für die elektrische Feldstärke. Vor ihr unterhalten sich zwei Studenten über eine Party am Wochenende, ein anderer packt sein Butterbrot aus. Marion stöhnt leise: „Das kannst du hier echt nur absitzen. Wer etwas verstehen will, muß es zu Hause, in Arbeitsgruppen oder Tutorien nacharbeiten.“ Aus den 20 Stunden, die sie in ihrem Stundenplan hat, werden so leicht 40 bis 60 Stunden Arbeit in der Woche.

Aber Elektrotechnik hat ihr schon in der Schule Spaß gemacht. Nach ihrer Lehre als Funktechnikerin wollte sie es genau wissen und studiert nun im dritten Semester an der TU. „So außergewöhnlich ist das zum Glück nicht mehr“, sagt sie. „Immerhin gibt es ja noch andere Frauen hier.“ Trotzdem ärgert sie sich oft genug. Wenn etwa ein Volumen berechnet werden soll, der Professor sie anlächelt und sagt: „Na, wie würden Sie als zukünftige Hausfrau denn den Inhalt eines Joghurtbechers berechnen?“ Oder wenn ein Kommilitone ihre Verstärkerplatine, die der Dozent beispielhaft herumzeigte, mit den Worten kommentierte: „Klar, Frauen können ja auch gut stricken.“ Man müsse sich eben ein dickes Fell zulegen, sagt sie achselzuckend. Nach der Vorlesung geht es zum Frühstück in den Frauenraum.

Um Thunfisch- und Kartoffelsalat, Sesambrötchen und Weintrauben haben sich 20 Frauen versammelt. „Für die Frauen an diesem Fachbereich ist es besonders wichtig, daß sie einen Raum haben, wo sie mal nicht als Exotinnen gelten“, sagt Antje Orths, Frauenbeauftragte des Fachbereichs, auf deren Initiative das Frauenfrühstück zurückgeht. Hier entstand auch die Idee, Frauentutorien einzurichten, in denen Studentinnen beim Aufarbeiten der Vorlesungen und Laborübungen unter sich sind. Die Idee ist auch bei den versammelten Frauen umstritten. „Ich wüßte wirklich nicht, wo da der Unterschied sein soll“, sagt Heike. Sie wolle nicht noch Extrawürste gebraten bekommen, auffallen täte sie genug, so ihre Nachbarin. „Viele wollen auch einfach nicht durch so etwas darauf hingewiesen werden, daß sie als Frauen ein Problem am Fachbereich haben könnten.“

Trotzdem hat die TU im Juli eine Stelle am Institut für Hochschuldidaktik eingerichtet, um an allen naturwissenschaftlichen Fachbereichen Frauentutorien zu etablieren. Die beiden wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen sind auch zum Frühstück erschienen. „Männer und Frauen haben ein unterschiedliches Lernverhalten“, sagt Kathrin Buchholz zur Begründung ihres Engagements. Wenn bei einem Programmierkurs ein Student und eine Studentin an einem Computer sitzen, bleibe die Tastatur meist in seinen Händen. „Während die Frau noch überlegt, wie sie das Problem theoretisch angehen würde, hat der Typ mittels Trial and Error den Rechner schon zweimal zum Abstürzen gebracht“, hat sie mehrfach beobachtet. Studien hätten ergeben, daß Frauen dazu neigten, sich erst zu Wort zu melden, wenn sie ein Problem ganz bis zu Ende gedacht hätten, Männer dagegen seien viel schneller auch mit Unfertigem dabei. Marion ist sich da nicht so sicher. Trotzdem hat sie im letzten Semester ein Frauentutorium besucht, da der Termin für sie günstig lag. „Die Atmosphäre war sehr angenehm, ich kann nicht genau sagen, warum“, gibt sie zu.

Um 14 Uhr geht es weiter mit einer Rechenübung zur Vorlesung „Grundlagen der Elektronik“. Diesmal sind außer ihr nur noch zwei Frauen im Raum, wieder andächtig bestaunt von den 80 männlichen Studenten. Ein schlaksiger Assistent zeichnet eine Schaltung an die Tafel, malt eine Kurve daneben und fordert sein Publikum auf, den Strom und die Verlustleistung der Diode zu berechnen. „Probiert mal aus, wie ihr das lösen würdet, in einer Viertelstunde rechne ich es dann an der Tafel vor.“ Marion zeichnet und rechnet los, in fünf Minuten ist sie fertig und berät die zwei Kommilitonen hinter sich. „Lange keine Elektronik mehr gemacht“, brummelt der eine verlegen, als sie ihm den Arbeitspunkt in seine Tabelle einträgt. Corinna Raupach

* Name geändert