Die Glatze als Zielgruppe der Sozialarbeit

■ Das Aktionsprogramm gegen Gewalt unter Jugendlichen in den fünf neuen Ländern bescheinigt sich Erfolg / Für Neonazi-Kader ist angeblich die Tür zu

Dresden (taz) – Die BetreiberInnen des „Aktionsprogrammes gegen Aggression und Gewalt“ haben ein Problem. Nicht die anhaltende Brutalität gegen Ausländer und Linke, etwa in Hoyerswerda oder in Halle; auch nicht die unter Rechtsextremen kursierenden Abschußlisten gegen Gegner aller Art. Das Problem ist die kritische Öffentlichkeit, sind die Medien. Sie verbreiten nämlich, so Bundesjugendministerin Angela Merkel (CDU) in Dresden, den „unberechtigten“ Vorwurf, das vom Bund nach dem Pogrom von Hoyerswerda aufgelegte 60-Millionen- Mark-Programm würde „rechtsextremistische Einstellungen und Tendenzen mit öffentlichen Mitteln fördern.“

Nein, die Gelder fließen nicht an „Glatzen“, entgegnete die Ministerin, sondern an „seriöse Träger der Kinder- und Jugendhilfe“ und werden von diesen genutzt, „um auffälligen oder gefährdeten Jugendlichen einen Weg zur Integration in die Gesellschaft zu ermöglichen.“ Die Projekte sollen organisierten Neonazis „den Nachschub abgraben.“ Ein Sozialarbeiter ermunterte das Auditorium, „weniger defensiv“ mit der Presse umzugehen. Er fühle sich durch Argwohn verunsichert: „Dürfen wir nun diese oder jene Musik im Klub dulden, müssen wir jeden ausländerfeindlichen Aufkleber gleich abreißen?“.

Die goldenen Regeln für Projekte des Aktionsprogramms lauten: Keine Gewalt, keine Auftritte von Neonazi-Kadern, keine Parteiplakate und Aufkleber, keine Musik von indizierten Gruppen. „Wir haben erlebt“, räumte die Ministerin ein, „daß rechtsextremistische Organisationen versuchen, in den geförderten Projekten Einfluß zu gewinnen oder sie sogar zu unterwandern.“ Das sei ihnen „bisher allerdings nicht gelungen“. Zweifel an diesem optimistischen Postulat sind zwar durchaus angebracht, wurden aber nicht laut. Immerhin, ein Sozialarbeiter rückte die pädagogischen Mühen um jugendliche Rechtsausleger in die politische Realität: Das Aktionsprogramm setze „Normen, die gesellschaftlich überhaupt nicht durchgehalten werden.“

Wenn regierende Politiker ungehemmt von Wirtschaftsflüchtlingen reden, dann sei es „doch zwangsläufig, daß Jugendliche gegenüber Ausländern bis zum Letzten gehen.“ Rassistische Musik und Aufkleber in den Klubs zu verbieten sei deshalb lebensfremd, hilfreicher sei, mit den Jugendlichen „darüber zu reden“.

Die Idee für das Aktionsprogramm entstand im Herbst 1991, als die Infrastruktur für Jugendfreizeit im Osten bereits nahezu restlos zusammengebrochen war. Der „gewalttätige Jugendliche“ wurde entdeckt, Sozialarbeiter mußten an die Front. Mit dem Erste-Hilfe-Geld des Bundes wurden in 30 ausgewählten Ost-Kommunen 150 Projekte aufgebaut.

Irina Bohn vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik Frankfurt/M. schätzt, daß bis zu 6.000 Jugendliche unmittelbar am Aktionsprogramm teilhaben, davon höchstens ein Drittel Mädchen. Die verbreitetsten Angebotsformen sind, einer Umfrage des Instituts zufolge, Foren und Informationsabende, Tagesfahrten und „Cliquenarbeit“. Selten seien Projekte des betreuten Wohnens und soziale Trainingskurse. Zwei Drittel der Projekte bestätigten, daß Gewalt zwischen Jugendlichen an der Tagesordnung ist, Gewalt sowohl untereinander als auch gegen „andere Gruppierungen“. Dazu zählen Angriffe „zwischen linken und rechten Gruppen“, gegen AusländerInnen und Gewalt gegen die Polizei. Zwei Fünftel der Projekte gaben an, daß Gewalttaten mit Strafverfolgung beantwortet werden.

Gerd Stüwe vom gleichen Institut bewertet das Aktionsprogramm als einen Impuls für die Sozialarbeit auch in den westlichen Bundesländern. Sozialpädagogische Beschäftigung mit Rechten sei zuvor weitgehend tabuisiert gewesen. Nun gebe es Erfahrungen „mit der neuen Zielgruppe“; allen voran diese: „Gewalt kann zum Thema der praktischen Arbeit gemacht werden.“

Auf der heutigen Konferenz der Jugendminister wird über die Fortsetzung der Projekte nach Ablauf des Aktionsprogramms 1995 beraten. Der Bund könnte, so die Idee der Ministerin, 50 Prozent der Kosten tragen, wenn die Länder den Rest übernehmen. Detlef Krell