: Tourismus küßt Biotop
■ Wieviel Touristen pro Adler? An der mecklenburgischen Müritz soll die attraktive Nationalpark-Idylle geschützt und gleichzeitig touristisch vermarktet werden
Herr Fischer gerät in Rage. Sein Zorn gilt den Naturschützern vom Nationalpark: „Sie vergewaltigen die Natur.“ Dann erklärt er: „Der Windbruch vom letzten Jahr wurde nicht aufgearbeitet. Wie soll ich sagen – der Borkenkäfer – da siedeln sich Schädlinge an. Die machen den ganzen Wald kaputt.“ Herr Fischer spricht vom Wald, aber sicher ist nicht, ob er nicht doch wieder die unliebsamen Naturschützer meint. Auf die Idee, daß Windbrüche zur Naturwaldbildung beitragen, kommt er nicht. Herr Fischer ist ehemaliger Mitarbeiter der Forstverwaltung; mit der Einrichtung des Nationalparks Müritz wurde er in den Vorruhestand versetzt. Er kennt diesen Wald ganz genau. Traditionell geht man hier jagen. Früher mit Göring, später mit Stoph. Heute geht er allein raus. Dann blutet das Herz des Forstmannes bei jedem umgefallenen Baum. Forstleute können im Wald nichts rumliegen sehen.
Martin Kaiser vom „Zweckverband der Nationalparkgemeinden“ hatte zwar betont, daß in Waren, der Stadt am Nordzipfel des Nationalparks, die Stimmung eher pro Naturschutz ist. Großen Ärger gäbe es vielmehr in Neustrelitz, am Ostteil. Aber im Gasthaus „Zur Börse“ am Warener Marktplatz regen sich noch mehr Männer auf. Auch der Wirt mischt sich ein. Beim Stichwort Nationalpark kippt er einen Nordhäuser Korn extra. Nach einigem Hin und Her hält er inne, sucht nach ausgewählten Worten und erklärt dann druckreif: „Man übertreibt hier. Es ist das Programm der Dilettanten.“ Die Biertischmeinung sitzt.
Dabei könnte alles doch so schön sein. Es geschah mit dem letzten Gesetzesblatt am letzten Tag der verblichenen DDR-Regierungszeit: Die neue, größere Bundesrepublik wurde um fünf Nationalparks reicher. Um Naturjuwelen reicher, muß man sagen. Sie sind so kostbar, weil hier „natürliche Prozesse“ geschützt werden sollen. Auf großen Flächen soll Natur wieder sich selbst überlassen sein. Daß das Ostufer der Müritz und der Serrahner Forst dazukamen, hängt nicht nur mit der dünnen Besiedlung des Gebietes zusammen, sondern auch mit der Vorgeschichte: Es sind im Kern ehemalige große Jagdgebiete aus Privat- bzw. Staatsbesitz, die nicht der extremen forstwirtschaftlichen Nutzung unterlagen. Hier sieht es an vielen Stellen noch so aus, wie man sich den deutschen Wald wünscht: Mischwald mit prächtigen alten Buchen und Eichen: es gibt zwar große Kiefernmonokulturen, aber auch standortgerechte Erlenbrüche und weitläufige Birkenbestände. Das Gebiet an der Müritz ist Endmoränenlandschaft und gehört zur Mecklenburger Seenplatte. So wechseln bewaldete Sandhügel mit Sumpfbereichen ab, ein See reiht sich an den nächsten. Schilfgürtel ziehen sich um jedes Seeufer herum. Kleine Seen oder die Nebenarme des großen Müritz-Sees wirken wie verwunschene Kleinodien. Und es kreucht und fleucht allerorten: viele Arten Wasservögel brüten hier, es gibt Kranichkolonien und zahllose Kolkraben. Die absolute Attraktion aber sind die Adler. Kaum daß sich sonst hierzulande solche großen Populationen von Fisch- und Seeadlern finden lassen.
All dies will jeder irgendwie erhalten. Geht es nach den internationalen Statuten für Nationalparks, dann müssen auch die letzten wirtschaftlichen Nutzungen eingestellt werden. Das Gebiet würde zum weißen Fleck auf der Landkarte. Aber dieses Wilderness-Programm hat schlechte Karten.
Nun plant die Parkverwaltung verschiedene Eingangstore. Die Gemeinde Boek am südöstlichen Ufer der Müritz ist eines davon. In dem kleinen Ort herrscht rege Bautätigkeit. Alte Gebäude werden hergerichtet, ein Reiterhof ist in Planung; Straßen sind aufgerissen. Es entsteht ein ansprechender Ortskern. Ein neues Hotel ist bereits fertig. Eingangspforten zum Nationalpark wie im Fall Boek harren ihrer touristischen Entdeckung. Ein wenig Freizeitrummel und Gastronomie, ein Tiergehege, Angebote für Kutschfahrten und Radtouren – der Campingplatz existierte schon zu DDR-Zeiten, bloß die Surfer sind neu – eine sanfttouristische Infrastruktur soll entstehen. Ohne allzu großen Schaden für die besuchte Natur könnte so ein Nationalparktourismus aufgebaut werden. Denn das Projekt Nationalpark soll nicht bloß der Natur dienen, sondern auch ökonomisch etwas Handfestes bringen.
„Der beste Naturschutz ist der, an dem die Wirtschaft interessiert ist, denn dann sind es nicht mehr die grünen Spinner, die Natur schützen wollen, dann setzt man sich miteinander an den Tisch“, sagt Dirk Bredow. Der sanfte Reiseveranstalter spricht für viele, die ökologisch interessiert sind. Anläßlich der „8. Allgäuer Gespräche zum Sanften Tourismus“ der Naturfreundejugend trägt er in der Jugendherberge von Mirow ein eigenes Programm vor: Rad- und Kanureisen an der Müritz. Die Naturfreunde beraten hier über das „Wie“ der gewünschten Verbindung von Ökologie und Ökonomie. Denn eines ist klar: „Nationalpark und Tourismus: das muß zusammenkommen! Wir müssen erreichen, daß sich das bedingt, daß sie nicht mehr voneinander loskommen.“ So hatte es bereits der Bürgermeister von Ankershagen zum Auftakt der Veranstaltung verkündet. Den Proklamationen folgen Konzepte, angefangen von sanften Reisen bis hin zum kompletten Verkehrsverbundsystem. Auf den Waldwegen, die bislang noch ausgiebig von privaten Pkws befahren werden, könnte beispielsweise ein Elektrobus eingesetzt werden, schlägt das Kieler Institut „Stadt & Land GmbH“ vor. An die Eingangspforten gehören Informationszentren, damit die Natur „erlebbar“ wird. Um einen stimmigen Gesamteindruck zu erreichen, müssen häßliche Bauten aus DDR-Zeiten verschwinden. Mit der Finanzierungsfrage wird die Wirtschaft direkt angesprochen: Sponsoren sind gern gesehen. Die Situation in und um den Park herum wird generell als defizitär eingeschätzt. Der Nationalpark ist tatsächlich ein weißer Fleck auf der Landkarte – planerisch gesehen. Der Fleck soll touristische Konturen erhalten.
Eigentlich ist es erstaunlich, daß trotz so vieler Vorschläge der Volkszorn kocht. Für Martin Kaiser, der das sanfttouristische Begleitprogramm der Naturfreundetagung arrangiert hat, sind jedoch die Konflikte einsichtig. Er kennt die Situation: erstens die wachsende Arbeitslosigkeit, zweitens die wachsende Perspektivlosigkeit – man sieht, so meint er, nirgends Aussicht auf Verbesserung. Der Coup der Naturschützer mit den Schutzgebieten muß also für jede Menge Frust herhalten. Obwohl der Nationalpark zur wirtschaftlichen Belebung der Region beitragen soll, wird er von den Anwohnern nicht als Chance, sondern vielmehr als Bremsklotz angesehen. So schleppt sich die Auseinandersetzung um Naturschutz und Nutzung zäh dahin und versackt im Hickhack. Trotz der deprimierenden Stimmung ist Martin Kaiser überzeugt: „Das Konzept des sanften Tourismus ließe sich nirgends besser verwirklichen als hier.“ Die sanften Touristiker wollen es wie überall in den ländlichen Regionen haben: beschaulich, ruhig und ordentlich. Eine studentische Arbeitsgruppe der FU Berlin hat das Terrain sondiert und einen Marketingvorschlag ausgearbeitet. Er ist strikt familienorientiert. Er setzt auf naturverbundene Touristen, die das einfache Mahl im Gasthaus genauso mögen wie den geordneten Sonntagsausflug auf dem Waldweg. Sogenannte Yuppies sind unerwünscht. Für den Nationalparktourismus braucht es engagierte Leute, die sich untereinander kontrollieren, denn wo der Ranger nicht am Fleck ist, wenn ein Besucher unbefugt vom Weg weicht, muß ihn ein beherzter Familienvater wieder auf den richtigen Pfad weisen können. Konzepte, die überzeugen?
Längst ist es ausgemacht, daß auf diese Weise auch Tourismus die Natur schützt. Drinnen im Park wird für geregelte Abläufe gesorgt. Da gibt es unterschiedliche Zonen, sogenannte Kern- und Entwicklungszonen. Orchideenwiesen werden gepäppelt. Fjellrinder grasen Weiden ab. Naturschützer haben Wege für Besucher ausgewiesen und Beobachtungsstände gebaut. An zahlreichen Stellen, wo der Blick auf liebliche Motive trifft, stehen Ruhebänke – es sind klassische Sightseeing-Points, an denen sich Wasser, Schilf, Baumveteranen und Laub wie gerahmte Naturgemälde präsentieren. Wege sind markiert, doppelt und dreifach, oft mehrfach, wo sich die Pfade kreuzen. Informationstafeln an Wanderparkplätzen im Wald klären über die Schutzziele auf und leiten die Besucher zu einem rücksichtsvollen Umgang mit der Natur an. Auf besonderen Naturlehrpfaden wird vom Baum bis hin zum Findling alles erklärt. Im Herzen des Nationalparks, im Jagdschloß zu Speck, sitzt das Nationalparkamt selbst. Hier kann sich der Besucher umfassend informieren. So wird er, wie es heißt, gelenkt und an die Natur herangeführt. Er darf auf Waldpfaden wandeln und sich wie im Museum die Ausstellungsstücke besehen.
Nur die berühmten Adler spielen nicht richtig mit. Im Sommer dieses Jahres stand bereits im Stern zu lesen, daß sie das Brüten einstellen. Sie sind störungsempfindlich. Sie mögen die klickenden Kameras von Touristen genausowenig wie Eierdiebe. „Bitte wenden Sie sich mit dieser Frage an Dr. Labes im Umweltministerium in Schwerin“, heißt es dazu im Nationalparkamt. Bernd Scherer weiß nichts von Brutproblemen der Großvögel. „Wir sind kein Artenschutzprogramm für Tiere. Sie sind ein willkommenes Nebenprodukt.“ Das Nationalparkamt hat andere Probleme als Adler. Allein die Doppelzuständigkeit von Umwelt- und Landwirtschaftsministerium für diesen Park sorgt für endlosen Konfliktstoff. Und in der Tat stören den Mann vom Parkamt „die paar Radler im Wald“ nun wirklich nicht.
Es ist Spätherbst, und es ist lausig kalt. Aber schön ist es auf diesem Musterausguck im Nationalpark. Das Schilfgras raschelt unterhalb der Terrasse. Wenige Meter weiter beginnt der Müritz-See. Einige Gänse fliegen trompetend über das Wasser. Ein Adler schleppt Beute ab. Natur satt! Genaugenommen verwundert es nicht, daß die Nationalparkidee eine Illusion bleibt. Worauf es hinausläuft, wenn wieder mal „Natur“ proklamiert wird: Projekte folgen. Ungestörte Natur im Nationalpark? Der Ranger gibt acht! Wildnis im geschützten Regenwald.
Nach den Worten Bernd Scherers bringen wir es hierzulande bestenfalls zu „Zielnationalparks“ – Projekten eben. „Wenn man verabsolutiert, ist alles Quatsch“. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages wärmen das Gesicht. Mit dem Fernglas erkennt man in den vielen weißen Punkten Schwäne, die im Ufergewässer dümpeln. Der Ausguck ist komfortabel wie eine gepflegte Hausterrasse: massiv aus Holz, reetgedeckt, Sitzplätze für mindestens zwanzig Personen. Sich niederlassen und der Natur lauschen, das Farbenspiel des abendlichen Himmels genießen, über Enten und Gänse plauschen und – vielleicht – die letzten Adler zählen: das reinste Erholungsprogramm. So einladend kann es sein, wenn der Tourismus ein Biotop küßt. Wie viele Adler werden seinem lustvollen Schmatzen wohl widerstehen?
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