Menschenversuche mit Plutonium

■ US-Regierung veröffentlicht Geheimpapiere aus 50 Jahren Atomtestwirtschaft

Washington (taz) – Das US-Energieministerium hat den Lichtschalter in seinem „Top-secret-Zimmer“ gefunden. Energieministerin Hazel O'Leary veröffentlichte diese Woche bislang geheime Informationen über Atombombentests und Experimente an Menschen, die seit mehreren Jahrzehnten unter Verschluß gehalten wurden. Um ihre Reaktion auf Radioaktivität zu erforschen, waren in den vierziger und fünfziger Jahren Tests an rund 600 Versuchspersonen durchgeführt worden. Nach bisherigen Recherchen ist 18 Menschen dabei ohne ihr Wissen hochradioaktives Plutonium injiziert worden. Sie sei „zutiefst erschüttert“, erklärte O'Leary, die nach eigenen Angaben selbst erst vor wenigen Tagen unterrichtet worden war.

Gleichzeitig erfuhr die US-amerikanische Öffentlichkeit erstmals von zusätzlichen 204 Atombombentests, die unter strikter Geheimhaltung seit 1963 durchgeführt worden waren. Die meisten Versuche fanden in den sechziger und siebziger Jahren, 17 Tests in den achtziger Jahren statt. Zuletzt wurde 1990 eine Atombombe ohne vorherige Ankündigung gezündet. Nach offizieller Darstellung geriet in 36 dieser Fälle Radioaktivität in einem Umfang in die Atmosphäre, der „zu vernachlässigen“ sei. Die USA haben damit seit 1945 offiziell insgesamt 1.051 Atombombentests durchgeführt.

O'Learys Informationen enthüllen zwar keine Verstöße gegen internationale Abkommen, da alle Tests unterirdisch durchgeführt wurden. Doch der Umstand, daß viele der Versuche auch von öffentlich zugänglichen seismologischen Instrumenten nicht registriert wurden, läßt die Frage aufkommen, inwieweit ein Abkommen zum uneingeschränkten Teststopp von Atombomben verifizierbar sein soll.

In ihrer Pressekonferenz distanzierte sich die Ministerin ausdrücklich von der „gefährlichen Kultur der Geheimhaltung“ in ihrem Ministerium, die über die letzten Jahrzehnte geherrscht habe. Die neue Selbstverpflichtung zur Transparenz ist nicht nur ein Versuch, das in der Öffentlichkeit arg ramponierte Image aufzupolieren. In einer Umfrage hatten Bürgergruppen und AktivistInnen letztes Jahr die Glaubwürdigkeit des für die zivile wie militärische Nuklearproduktion zuständigen Ministeriums als äußerst gering eingestuft.

Zweifelsohne ist der neue Hang zur Öffentlichkeit auch eine Aufforderung an andere Nationen, allen voran Rußland und Nordkorea, es den USA gleichzutun. O'Leary reist kommende Woche nach Moskau, wo sie vermutlich die russische Regierung drängen wird, ebenfalls ihre bislang geheimgehaltenen Atombombentests öffentlich zu machen. Wiktor Michailow, russischer Atomminister, hatte seinerseits 1990 behauptet, die USA hätten insgesamt 1.080 Bomben gezündet – 29 mehr, als in der Buchhaltung des US- Energieministeriums auftauchen. Anti- Atom-Organisationen und Bürgergruppen begrüßten die Pressekonferenz der Ministerin. Doch noch hat O'Leary längst nicht alles erzählt, was die Öffentlichkeit wissen sollte. Zwar erfuhr die Presse, daß derzeit 33.5 Tonnen waffenfähigen Plutoniums in sechs Bundesstaaten gelagert werden. „Doch die Regierung verschweigt nach wie vor, wie groß ihr Arsenal an Nuklearwaffen ist“, kritisierte Drew Caputo vom „Natural Resources Defense Council“.

Im Energieministerium hat man unterdessen begonnen, weitere 23 Millionen Seiten geheimer Dokumente auszuwerten. In einigen Monaten, nach detaillierteren Informationen, könnte es zu Klagen gegen die Behörden kommen – vor allem von den Angehörigen jener Menschen, denen Plutonium gespritzt worden ist. Die letzte der 18 Versuchspersonen ist vor zwei Jahren gestorben. Andrea Böhm