Philharmonische Zechlin-Stufen

Daß Kunstwerke mehrdeutig sein können, ist eine Schlüsselthese der Postmoderne. Dargelegt wird diese These der „Mehrfachcodierung“ zumeist an der Architektur, selten nur an der Musik. Und das verwundert, wo doch nicht nur der Satz gilt, Architektur sei gefrorene Musik, sondern gerade die zeitgenössische Musik auch reich ist an Beispielen für Vielstimmigkeit.

Etwa die Komposition „Stufen“ der 1926 in Sachsen geborenen Ruth Zechlin. Dieses, unter der Leitung von Gerd Albrecht im Rahmen der „Philharmonischen Konzerte“ am Sonntag uraufgeführte Werk, setzt die Möglichkeiten von Vielschichtigkeit in jeder Hinsicht um: rhythmische Elemente, die an Bartók erinnern, werden durchkreuzt von kirchentonalen Zitaten. Dies sind kleine musikalische Hintertreppen, perspektivisch verschachtelt, wie die Treppen Eschers, die von unten kommen, um oben wieder unten zu sein.

Und ebenso sind Zechlins „Stufen“ die großen kargen Treppenhäuser der Großstädte. Es ist keineswegs kategorisierend gemeint, daß sie im experimentellen Umgang mit den Instrumenten an Boulez oder Zappa erinnert. Vielmehr bezeugt das die Fähigkeit, Material so umzusetzen, daß die Musik mehr über die gegenwärtige Zeit aussagt, als einem lieb ist. Die postmoderne Vielstimmigkeit von „Stufen“ wird dabei beschnitten durch den Zwang der Moderne, in Kunst immer einen Sinn finden zu müssen.

Wenn Musik nun weder Sinneindeutigkeit, noch Sinnlosigkeit präsentiert, sondern statt dessen mit Doppelsinnigkeit und explosiver Bilderfülle operiert, einer Nachrichtensendung vergleichbar, wird der Konzertbesucher, der sich noch immer im letzten Jahrhundert am wohlsten fühlt, unruhig. Gewürdigt werden muß da Gerd Albrecht, der sich bei Neuer Musik stets die Zeit nimmt, den Zuhörern durch Erläuterungen und Anmerkungen die Angst zu nehmen. Als Dirigent bestimmt er seine Rolle neu, das Orchester nicht länger an-, sondern das Publikum einzuführen.

Und vielleicht wird einmal überlegt, ob solche Einführungen nicht auch bei älterer Musik ratsam wären. Werden nun die antiprogrammatischen „Stufen“ aufgeführt mit Mahlers „Lied von der Erde“, das eine ganze Epoche programmusikalisch zu fassen vermag, dann nicht ohne Absicht. Gewiß sollten die wohl traurigsten Lieder der Musikgeschichte, von Iris Vermillion und Heinz Kruse auch so besungen, keine Belohnung für die „Stufen“ sein, kein Zuckerbrot, sondern noch einmal die Peitsche.

Roger Behrens