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SanssouciVorschlag

■ „Die Einäugigen“ in der Freien Oper Berlin

Foto: Marcus Lieberenz

„Cacodylate“ hieß das Nervenmittel, das der französische Künstler und Wegbereiter der Dada-Bewegung Francis Picabia in den zwanziger Jahren immer wieder verschrieben bekam. Einen Löffel davon könnte man schon gebrauchen nach dem Besuch von „Die Einäugigen – eine Hommage an Francis Picabia“ im Ballhaus Naunynstraße. Der neuen Produktion der Freien Oper Berlin liegt ein surrealistischer Filmtext Picabias zugrunde, dessen Analogien und Assoziationen durch die Inszenierung von Martin W. Richter und Karl Meyer stark verdichtet werden – eine strapaziöse Herausforderung für Mitwirkende und ZuschauerInnen.

Die Bühne wird zu einem Ort der Gleichzeitigkeit von Lethargie und Hysterie. Mit zerhacktem Gesang und verkrampfter Gestik symbolisieren SängerInnen eine bourgeoise Gesellschaft, die einer brüchiger werdenden Welt nur Erstarrung entgegensetzen kann. Wenn der Damm ihrer Stilisierung bricht, überträgt sich die Furcht vor dem Leben auf ihre unmittelbare Existenz. Sie greifen zu Messern. Zwei Tänzerinnen verkörpern Irre, die sich am Schluß, als alle anderen den gesellschaftlichen Schauplatz Bühne verlassen haben, der zurückgebliebenen Dinge bemächtigen. Für sie ist die Auflösung der Ordnung nicht Bedrohung und Verwirrung, sondern Erfahrung von Freiheit. Hierdurch deutet sich in der Inszenierung eine Ahnung von dem surrealistischen Standort an, von dem aus Vernunft und Wahn, Traum und Wirklichkeit aufhören, als Gegensätze wahrgenommen zu werden.

Das hervorragende Ensemble der Freien Oper wird eingehüllt in das zuckende Farbspiel der per Overhead-Projektoren übertragenen Live-Malerei von Eva Paul und die elektronisch verfremdete Musik aus Zitaten von Erik Satie und Varieté-Elementen der zwanziger Jahre. Beim Zuschauen wird einem von der raschen Bilderfolge fast schwindelig. Die konventionellen Zeichensysteme von Musik, Gesang, Tanz, Schauspiel und Malerei haben hier keine Bedeutung mehr. Die eigene sinnliche Wahrnehmung muß zu einer Art Fotozelle werden, die Reize aufnimmt, ohne sie ordnen zu wollen. Es gilt, die eigene Phantasie zu inszenieren, ganz wie Picabia im Vorwort zu seinem „Akkomodationsgesetz bei Einäugigen“ verlangt: „Form und Inhalt, Raum und Zeit – wie du willst!“ Michael Fuchs

15.12. bis 19.12., jeweils um 20 Uhr im Ballhaus Naunynstraße, Naunynstraße 27, Kreuzberg

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