Serie: Die Krise der Universitäten (dritte Folge): Wer die Hochschulen retten will, darf sie nicht verschließen, sondern muß sie konsequent öffnen für alle Bevölkerungsschichten / Konzentration auf Berufsspezialisierung ist unsinnig Von Christian Füller

Volksuni im besten Sinne werden

Die Krise der Hochschulen ist die des Bildungssystems als Ganzes. Die drei Standpfeiler – Schule, Berufsbildung und Hochschule – sind dringend renovierungsbedürftig. Und die vierte Säule, die Fort- und Weiterbildung, ist noch zu wenig stabil ausgebaut. Auf die Neugier und die Bereitschaft ihrer BürgerInnen zu lebenslangem Lernen aber ist die demokratisch verfaßte Informationsgesellschaft angewiesen: weil sie geprägt ist von einer rapide sinkenden Halbwertzeit von Wissen und Qualifikation.

Der Langzeitstudent ist nicht die Ursache der Hochschulkrise. Er ist vielmehr ein Indikator. Er zeigt an, wie schwierig der Übergang zwischen den Teilsystemen Arbeit und Bildung geworden ist. Die konservative Kur dagegen lautet Restriktion. Sie zielt darauf ab, Arbeitsmarkt und Bildungssystem schärfer voneinander abzuschotten: Ansonsten glühende Prediger der „freiheitlichen Gesellschaft“ wollen längere Arbeitszeiten bei tendenziell niedrigeren Tarifen. Und zu den Universitäten fällt ihnen nichts ein außer: Schneller studieren! Fleißiger lernen! Strenger prüfen! Wir leben an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Der mittelalterliche Pedell, der traditionelle Universitäts-Hausmeister, hat ebenso ausgedient wie seine später folgenden Zuchtruten: Zwangsexmatrikulation, Regelstudienzeit, flächendeckende Zulassungsbeschränkung über den Numerus clausus.

Der Hochschulkrise müssen die vielfältigen Ursachen entzogen werden: Noch immer steuert ein mystifiziertes Abitur den Bildungszugang, während gleichzeitig der Lehrabschluß systematisch benachteiligt wird. Wer hineinkommt, was an den Unis noch häufig, an den Fachhochschulen bei neunzigprozentigem Numerus clausus selten gelingt, muß sich mit einem ungenießbaren Brei an Berufsfertigkeiten, Wissen und Kenntnissen auseinandersetzen. Hinzu kommt, daß das Gespräch zwischen Lehrendem und Lernenden zerstört ist, das Kernstück der Humboldtschen Universität.

Wer die Hochschulen retten will, darf sie nicht verschließen, sondern muß sie konsequenter öffnen. Er muß sie zu Volksunis im besten Sinne machen, indem er sie aufmacht für Lehrlinge, für Berufstätige in Teilzeit, für jene, die im Zuge der Arbeitszeitverkürzung ein „Sabbatjahr“ lang aus dem Job aussteigen, für alte Menschen. Dies schreit nach zwei Konsequenzen:

Erstens muß die Krise der Arbeitsgesellschaft und die des Bildungswesens zusammengedacht werden. Im Gegenzug zur Öffnung des Bildungswesens ist auch der Arbeitsmarkt zu flexibilisieren. Er muß wieder zugänglich gemacht werden, indem man die Arbeitszeiten erheblich verkürzt. Das Recht auf Faulheit, auf Nichtarbeit könnte so im Wunsch nach Bildung und Qualifikation fruchtbar gemacht werden.

Zweitens erfordert dies in bezug auf die Lerninhalte, die Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Erkenntnis in den Bildungseinrichtungen erneut zu stellen. Wieviel konkrete, fachorientierte Berufskenntnisse, welche allgemein in der Kommunikationsgesellschaft nachgefragten Fertigkeiten und Fähigkeiten und welches Maß an allgemeinem Wissen braucht jemand, um urteilsfähig zu sein? Diese unbeantwortete Kernfrage der Bildungsreform, von KultusministerInnen längst nicht mehr formuliert, ist die uralt- idealistische: Wie kann man den Menschen zur selbständigen und sittlichen Persönlichkeit bilden?

In der idealistisch-antiquierten Urteilskraft steckt die modernere Reflexionsfähigkeit. Ein schwer beschreibbares Etwas, das aus jeder zweiten Asta-Verlautbarung zur Bildungs-„Deform“ quillt. Tenor: Wer das Humboldtsche Prinzip der Bildung an Wissenschaft abschafft, gibt das Studienziel des „mündigen Bürgers“ preis. So richtig diese Formel im Blick auf die anstehende Hochschulreform sein mag, enthält sie doch auch eine handfeste Diskriminierung der nichtakademischen Bildungswege: Sind HauptschülerInnen, Lehrlinge, RealschulabsolventInnen per se keine mündigen BürgerInnen?

Der Blick auf die gesellschaftliche Realität gibt dem arroganten Seitenhieb einen bitteren Beigeschmack. Während die privilegierte Schicht der StudentInnen in – so scheint es – vornehmlich besitzstandswahrender Absicht gegen schlechte Studienbedingungen (nämlich für mehr Geld) demonstriert, landen auch andere junge Leute auf der Straße: weil sie keine Lehrstelle finden! In Berlin sind es derzeit mindestens 1.000 Menschen, denen das Duale Berufsbildungssystem kein Chance auf eine Ausbildung gewährt.

Dieses vielgerühmte Duale System unserer Berufsausbildung – Lehrstelle plus Besuch der Berufsschule – hat seinen Namen nicht umsonst an die Müllabfuhr abgetreten: Im Westen der Republik werden regelrecht Fahndungslisten geschrieben, um Nachwuchs ins „goldene Handwerk“ zu locken. Im Osten gibt es den ausbildenden Handwerksmeister noch kaum, und die Industrie spart, wo sie kann – zuerst aber in der Berufsausbildung. Der Ausbildungsplatz aber ist die Eintrittskarte in die Gesellschaft. Wer diese Eintrittskarte nicht bekommt, hat ein Abonnement auf die Institutionen in der untersten Etage der gedrittelten Gesellschaft fast schon sicher: dem Sozialamt.

Die politische Klasse begegnet dem mit der marktwirtschaftlichen Ideologie des Dualen Systems: Für die Ausbildung ist die Wirtschaft zuständig! Wer kein Azubi geworden ist, hat sich eben nicht genug bemüht. Gegen diese berechnende Untätigkeit, die auf der frühzeitigen Deklassierung durch Bildungsverweigerung zielt, gibt es ein klares Konzept:

Die Hauptschulen sind abzuschaffen. Und der sich an die Mittlere Reife anschließende Lehrabschluß ist dem Abitur gleichzustellen. Das Duale System ist nicht mehr allgemein integrationsfähig. Also muß der Staat dafür Sorge tragen, daß rein schulische Berufsbildungswege und Ersatzmaßnahmen für benachteiligte SchulabgängerInnen ausreichend zur Verfügung stehen.

Organisieren bräuchte er diese Form von Bildung selbst gar nicht; schon jetzt erledigen dies weitgehend eigenständigen Bildungsträger. Bildungsziel muß auch hier sein: eine mündige Persönlichkeit, die eine begründete, den Neigungen entsprechende Berufswahl treffen kann und befähigt ist, aktiv am politischen und kulturellen Leben teilzuhaben.

Die Folgen dieser grundlegenden Reform wären: daß mit der anachronistischen Privilegierung des Abiturs aufgeräumt würde. Obwohl faktisch jedeR die Zugangsberechtigung zur akademischen Bildung hätte, würde der Druck auf die Hochschulen nachlassen.

Denn die Lehre wäre keine Sackgasse mehr, die zwangsläufig mit niedrigem Prestige und geringerem Gehalt verbunden ist.

Und das Studium wäre immer noch ein Privileg – nämlich für eine bestimmte Zeit den normalen Reproduktionsbedingungen enthoben zu sein. Die Voraussetzung dafür wäre eine gewaltige gesellschaftliche Investition: zum einen das Recht auf Bildung durch ein allgemeines, aber zeitlich begrenztes Stipendium abzusichern. Zum anderen die Hochschulen baulich und personell auf diese zweite radikale Öffnung nach den Siebzigern vorzubereiten.

Dazu tut zuallererst der massive Ausbau der Fachhochschulen not. Ohne sie ist die notwendige Vielfalt der höheren Bildung nicht zu erreichen. Aber dieser Ausbau muß ab sofort geschehen und darf keine bloß verbale Anstrengung sein, in der sich – in schöner Eintracht mit seinem Kultusministerkollegen – auch Berlins Wissenschaftssenator Manfred Erhardt (CDU) gefällt. Die Studentenzahlen werden weiter steigen. Aus individuellen Wünschen ebenso wie aus der gesellschaftlichen Notwendigkeit eines hohen Bildungsniveaus heraus. Noch wird diese Investition in die Jugend unter dem Vorwand enormer Wiedervereinigungskosten und der Rezession verweigert.

Offenbar aber ist genug Geld da, um im Straßenbau milliardenschwer aufzurüsten. Es liegt also an der Prioritätensetzung: viele breite Straßen oder eine Jugend und eine Gesellschaft mit Zukunft. Die Hochschulen ihrerseits können ohne eine grundlegende Studienreform diesen Zukunftsanforderungen nicht gerecht werden. Das bedeutet im wesentlichen, sich auf die verschiedenen Arten von HochschülerInnen einzustellen. Soll die Brücke zwischen Arbeitsmarkt und Bildungssystem für jedeN begehbar sein, bräuchte es mehr aktive Bildungsberatung und spezielle Kurse zum Studieneinstieg. Die Hauptstränge an höheren Bildungseinrichtungen wären ein praxisorientiertes und ein theoretisch angelegtes Studium. Beides würde berechtigen, bei Neigung und Eignung, ein eigentliches Forschungsstudium zu absolvieren.

Und was soll an den Hochschulen gelehrt werden? Die Bereitschaft zu kritischer Interdisziplinarität und die Fähigkeit, sich Wissen immer wieder neu anzueignen. Franz Neumann, in der Weimarer Republik Gewerkschafter, Anwalt und Wissenschaftler in Berlin, hat ein solches Konzept aufgestellt. Er empfahl dem Studenten, „erstens, daß er eine genaue Kenntnis eines Sondergebietes innerhalb des Gesamtgebietes erhält, zweitens, daß er eine genaue Kenntnis der Forschungsmethoden hat ... und drittens, daß er in seinen Grundzügen einen Überblick über das gesamte Gebiet hat“.

Neumanns Konzept galt für die aus verschiedenen Disziplinen schöpfende Politikwissenschaft und stammt aus der Nachkriegszeit. Dennoch ist es für jedes Fachgebiet höchst aktuell: Es enhält einen interdisiziplinären Kern und beschreibt die Methode des „Lernen lernen“. Daran ist die Industrie ebenso interessiert, wie die Befürworter einer Kritischen Universität in der Demokratie es sind.

Die Ausbildungsabteilungen der großen Konzerne sehen als ein großes Manko der Hochschulabsolventen ihre soziale Inkompetenz an. Teamfähigkeit und fachübergreifende Kommunikation, so etwa der Ausbildungschef von IBM, Klaus Pawlek, vermittle die Uni „eher zufällig“. Auf der anderen Seite fordert auch das Bildungsideal des „mündigen Bürgers“ Interdisziplinarität. Nur soll sie kritisch sein und mehr vermitteln als das reibungslose Gespräch über Fachgrenzen hinweg. StudentInnen sollen mindestens einmal im Studium von verschiedenen Disziplinen her mit einem offenen Forschungsproblem konfrontiert werden, fordert etwa Eberhard Lämmert, ehemals Präsident der Freien Universität. Dieses forschende Lernen soll im Projekt geschehen, und es zielt nicht auf bloße Vermehrung von Wissen, sondern auf Erkenntnis: das Bewußtsein von Studenten zu schärfen, daß ihres und das Wissen allgemein kein eigenständiger Wert ist. Daß der Mensch entmündigt wird durch erdrückende Wissensdaten, wenn er nicht nach dem Warum des Wissens fragt: Und das ist der unbedingt menschendienliche Zweck des Wissens.

Der so an Wissenschaft gebildete Absolvent verfügt natürlich über viel mehr als eine berufliche Qualifikation. Und das ist gut so. Die Pläne konservativer Reformer, ein nur berufsqualifizierendes Studium einzuführen, sind geradezu unsinnig. Kein Studium, weder an der Fachhochschule noch an der Uni, kann heute paßgenau auf einen Beruf zugeschnitten werden. Wer dies will, verbaut Absolventen die Zukunftschance.

Die Anforderungsprofile wandeln sich schneller, als mancher konservative Bildungsreformer denken kann.

Berlins Wissenschaftssenator klagt das berufsqualifizierende Studium gerne mit dem Argument ein, lediglich 25 Prozent der Hochschulabsolventen würden ausbildungsadäquat eingesetzt. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Noch findet ein Viertel der AbsolventInnen tatsächlich eine adäquate Stelle. Bald werden es weniger sein. Ein Blick auf die Qualifikation seiner Ministerkollegen und die von ihnen geleiteten Ressorts sollte den Senator lehren: Der Zusammenhang zwischen Studium und Arbeitsplatz löst sich vollends auf.

Im Gegenteil gewinnen dadurch die beschriebenen Bildungsziele des Studiums an Bedeutung: die Persönlichkeitsbildung und die Einsicht in die politischen und ökonomischen Zusammenhänge der Gesellschaft.

Dieses Bildungsideal des „mündigen Bürgers“ muß auch für die nichtstudierenden AbsolventInnen allgemeinbildender Schulen wieder gelten. Die derzeitige Situation und die eingeschlagenen Reformwege zeigen in eine andere Richtung.

Die Serie wird fortgesetzt am Montag nächster Woche.