Eine buddhistische Geste

■ Münster streitet um eine „Überfrau“ als Skulptur im öffentlichen Raum

„Jetzt aber...“, muß sich Walter Grasskamp gedacht haben, aber dann kam nichts. Eigentlich wollte er Tom Otterness, dem Schöpfer der „Überfrau“, die acht Meter hoch vor der neuen Stadtbibliothek steht, eins reinwürgen und seine Plastik als „amerikanische Dienstleistungskunst“ abqualifizieren. In Gedanken war er wohl schon bei Frau und Kindern, denn er verwechselte Münster mit dem heimatlichen Aachen und kam darob erst mal ins Stottern. Was das katholische Münster dem katholischen Aachen oder dem protestantischen Berlin voraus hat, sind die Skulpturenprojekte und das Interesse, das die Bürger den Kunstwerken gegenüber zeigen.

Mindestens 200 Personen drängten sich im Saal der alten Bibliothek, um den Ausführungen von Grasskamp, Schneckenburger, Bürgermeister Twenhöven und den Erbauern der postmodernen Bücherei, Julia und Peter Bolles-Wilson, zu lauschen. Tom Otterness war anwesend; Kasper König, der den Künstler für die Kunst am Bau vorgeschlagen hatte, war abwesend, und so mußte sich Otterness selbst verteidigen. Dessen Figur würde den Blick auf St. Lamberti beeinträchtigen, sei zu literarisch, zu symbolisch und habe keine Beziehung zur Bibliothek, meinte Schneckenburger. Die „Überfrau“ sei keine ernsthafte Kunst, zu comicartig, zu verspielt, monierte Grasskamp und verwies die Plastik in den Bereich des Kitschs: Typisch für die europäische Kunst sei ihre Verweigerungshaltung, hingegen käme aus den USA die Kunst der Unterhaltung! Ach, wären die beiden doch richtig heißgelaufen ..., aber leider blieb es in Münster kühl und westfälisch: Grasskamp und Schneckenburger paßte die ganze Richtung nicht, aber sie wurden nicht deutlich und verschanzten sich hinter Schulmeistertum und Nörgelei.

Tom Otterness, der sich nicht nur als Künstler, sondern auch als Tai-Chiist einen Namen gemacht hat, nahm es gelassen und brauchte an diesem Abend keinen König an seiner Seite. Wozu sich aufregen, wenn der Auftrag erledigt und jede nachträgliche Debatte überflüssig ist. Bürgernähe auf westfälisch, wäre da nicht die „Überfrau“: Sie steht am Ende der sogenannten Büchergasse, die die zwei dynamisch geschwungenen Baukörper der Bibliothek voneinander scheidet. Die Gebäudeteile sind mittels einer Brücke verbunden, und wenn überhaupt etwas den Blick auf St. Lamberti stört, dann ist es dieser Übergang und nicht das Stahlskelett der Skulptur. Otterness erklärt, daß seine Figur „Ungewißheit“ darstelle und mit der Armhaltung „eine buddhistische Geste“ vollführe. Die Plastik besteht aus polierten Stahlstangen und bronzenen Innereien, die weibliche Genitalien, Herz und Hauptarterien darstellen. Mit diesem Käfig für den weiblichen Körper wollte Otterness aber auch an die Folterkäfige erinnern, in denen mittelalterliche Ketzer am Turm von St. Lamberti verhungerten. Auf und um die „Überfrau“ wimmeln Figürchen aus Bronze, an denen, so Bürgermeister Twenhöven, „die Kinder ihre Freude haben werden“. Die Miniaturen stehen einzeln und in Gruppen und veranstalten „Welttheater“: wie Heinzelmännchen hantieren sie mit zu großem Werkzeug, schreiben mit riesigem Füller in riesige Bücher und bestaunen die gestürzten Kolosse der Ideologien: zwei hohle, zerborstene Giganten liegen neben der „Überfrau“. Die kleinen Wesen turnen auf den Gestürzten, betasten Hammer und Sichel. Auch die „Überfrau“ wird beklettert. Auf ihrem Kopf sitzt einer der Wichte und hebt mit den Händen den Kopf weit über den Hals, „um besser in die Zukunft zu blicken“, so Otterness. Er versteht sein Werk als Parabel auf den Zustand der Welt und die Veränderungen, die durch den Zusammenbruch der Blöcke entstanden sind.

Gut daß die Plastik im Zentrum von Münster steht, sonst würde man kaum merken, daß alles anders wird: immer noch sitzen die Honoratioren im Traditionslokal „Stuhlmacher“ und verzehren Töttchen, Schinkenhäger und Bier, immer noch sitzen die Sportstudenten im „Bullenkopp“, essen Bratwurst, trinken Schinkenhäger und Bier. Business as usual, das geht noch eine Weile. Was Berlin der „Wasserklops“, ist Münster nun die „Überfrau“ – populär bis populistisch, genau das richtige für Kunst am öffentlichen Bau.

Indessen ist Samstagmittag in Münster: Auf dem gepflasterten Platz vor der Einkaufspassage veranstaltet der lokale Radiosender einen Karaoke-Wettbewerb. „Herzilein, darfst nicht traurig sein...“, jaulen drei Schülerinnen, „Alles hat ein Ende nur die Wurst hat zwei“, grölt ein Weltergewicht — und die Glocken von St. Lamberti läuten den Sonntag ein. Peter Funken