Das Dorf der Kollaborateure

In einem Ort im südlichen Gaza-Streifen siedeln israelische Behörden Palästinenser an, die ihnen zu Diensten waren / Dort fürchten sie jetzt um ihr Leben  ■ Aus Dahaniya Karim El-Gawhary

Von außen sieht es aus wie ein riesiges Gefangenenlager. Ein Sicherheitszaun trennt das Dorf vom Rest des palästinensischen Gaza- Streifens. Die israelisch-ägyptischen Grenzbefestigungen ziehen sich an der südlichen Seite entlang, während im Hintergrund die grüne Linie zu Israel die Ortschaft hermetisch abriegelt. An der einzigen Zufahrtsstraße wacht eine Gruppe schwerbewaffneter israelischer Soldaten vor einem verschlossenen Tor.

Der Zweck der Konstruktion ist nicht etwa eine Art israelischer Strafvollzug, sondern das Gegenteil: Diejenigen drinnen sollen vor dem bösen Außen bewahrt werden. „Das Dorf der Kollaborateure“ wird dieser Ort im Rest des Gaza-Streifens genannt. Ein Name, in dem die ganze Häßlichkeit der Besatzung zum Ausdruck kommt. Mit Abscheu deuten Palästinenser in Richtung des Dorfes. Für sie macht der Verrat ihrer dort lebenden Landsleute Dahaniya zu einem Refugium von Aussätzigen.

„Willkommen in Dahaniya“, steht auf einem riesigen Schild am Ortseingang geschrieben. Abu Jussuf ist gerade dabei, den Müll mit seinem Traktor von einem Ende des Dorfes zum anderen zu fahren. Nur zögernd empfängt er uns in seinem Haus, das im Innenhof mit den Insignien des israelischen Staates geschmückt ist. Er entschuldigt sich dafür, ein wenig verwahrlost auszusehen. „Ich rasiere mich nicht mehr, weil mein Sohn vor zehn Tagen im Dschabaliya-Flüchtlingslager im Gaza-Streifen erschossen wurde“, erklärt er, während er sich langsam über seine grauen Bartstoppeln streicht. Anhänger der islamistischen Hamas-Bewegung hätten den jungen Mannn ermordet, weil er mehrmals seinen Vater besucht habe. Das letzte Mal habe er vor etwas mehr als zwei Wochen hier vorbeigeschaut.

In Dahaniya ist Abu Jussuf bekannt wie ein bunter Hund. In seiner schwarzen Lederjacke sitzt er auf seinem Stuhl und starrt mit gesenktem Blick auf den Boden, so als traue er selbst seinen Worten nicht. In dieser Haltung beginnt er seine Geschichte zu erzählen: „Ich lebe hier seit dem Beginn des palästinensischen Aufstandes gegen die Israelis, weil ich mit den Besatzern zusammengearbeitet habe.“

Seit dem Beginn der Intifada vor sechs Jahren leben Kollaborateure oder diejenigen, die als solche gelten, gefährlich. Fast tausend von ihnen sind bisher von den militanten Flügeln der PLO oder der Hamas umgebracht worden. Die meisten im Gaza-Streifen.

Wie viele Menschenleben ihre Informationen an den israelischen Geheimdienst Schin Bet gekostet haben und wie viele Palästinenser aufgrund ihrer Hinweise verhaftet wurden, darüber gibt es keine Zahlen. Klar ist, daß Kollaborateure jenes Leck in der palästinensischen Gesellschaft bilden, durch das die gefürchteten „verdeckten Einheiten“ der israelischen Militärs mit genauesten Informationen versorgt werden. Diese als Araber verkleideten Kommandos fahren in zivilen palästinensischen Autos in die Lager, um gesuchte Palästinenser aufzustöbern. Einmal entdeckt, werden diese oft gleich vor Ort erschossen. Die Kollaborateure sind es, die die israelische Armee nach dem Beginn der nächtlichen Ausgangssperre zu den Häusern der Intifada-Aktivisten führen. Sie sind die verhaßten Augen und Ohren der Besatzungsmacht.

In den letzten Jahren versuchte die „Vereinigte palästinsische Führung des Aufstandes“ allerdings, die Morde an verdächtigten Kollaborateuren einzuschränken. Nur noch, wenn es klare Beweise gebe und die Kollaboration andere Palästinenser in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht habe, sollte weiterhin zugeschlagen werden. Bis heute wird über dieses Thema unter den Palästinensern eine hitzige Debatte geführt. Haider Abdel Schafi, der in Gaza lebende frühere Leiter der palästinensischen Verhandlungsdelegation bei den Nahostgesprächen, rief kürzlich dazu auf, das Morden einzustellen. Andere zögern noch. Die besonders von der israelischen Presse ausgeschlachtete Version „Araber töten Araber“ schadete der Intifada. Doch Einigkeit besteht darüber, daß es die Israelis sind, die, oft mit erpresserischen Methoden der Rekrutierung, die Verantwortung für die Kollaboration tragen.

Die Morde entglitten zeitweise der Kontrolle der Intifada-Führung. Für die meisten „Exekutionen“ waren Anhänger der von PLO-Chef Arafat geführten Fatah verantwortlich. Oft waren es Fatah-Falken, Mitglieder des bewaffneten Arms der Fatah, denen vorgeworfen wurde, unter dem Deckmantel der Vergeltung für Kollaboration persönliche Rechnungen zu begleichen.

Die islamistische Hamas-Bewegung schlug seltener zu, und zumeist richteten sich ihre Anschläge gegen solche Personen, deren Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht zweifelsfrei feststand. Die israelische Tageszeitung Jerusalem Post zitierte einen hochrangigen israelischen Offizier, mit den Worten: „Die Angreifer treffen normalerweise die richtigen Ziele.“

Vor wenigen Wochen gab Hamas eine Erklärung heraus, in der sie jenen Kollaborateuren Straffreiheit versprach, die sich innerhalb von zwei Monaten stellten. Viele Palästinenser sind der Morde überdrüssig geworden. Viele hoffen, daß die demnächst einrückende palästinensische Polizei zivilisierter mit den Kollaborateuren verfahren wird. Auch Vertreter der „linken“ Abkommensgegner innerhalb der PLO, wie von der „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (PFLP) , sprechen unter der Hand davon, daß langfristig kein Weg an einer Amnestie der ehemaligen Kollaborateure vorbeiführe.

Das Thema Kollaborateure war auch Inhalt der Unterredungen zwischen Israelis und Palästinensern in Ägypten, die nach der Vereinbarung des „Gaza-Jericho-Abkommens“ aufgenommen wurden. Die Israelis versuchten, die Frage mit der Freilassung palästinensischer Gefangener zu verbinden. Bisher blieben die Verhandlungen allerdings ohne Erfolg.

Abu Jussuf wird sicherlich nicht auf das Amnestieangebot von Hamas eingehen. Ohnehin sieht er sich selbst mehr als Opfer denn als Täter: „Die Leute waren neidisch auf meine Geschäfte.“ Er habe ein Versicherungsbüro und Geld gehabt und hätte sich daher vor palästinensischen Neidern schützen müssen. Als einzige zuverlässige Kraft hätten sich da die israelischen Soldaten angeboten. Wie das Beschützerverhältnis genau aussah, darüber schweigt er sich aus. Jedoch muß er den Israelis gute Dienste geleistet haben. Nur so ist es zu erklären, daß sie ihn in Dahaniya ansiedelten. Seine Rente bezieht er direkt vom israelischen Innenministerium.

Einer seiner Nachbarn will seinen Namen lieber nicht nennen. Nur daß er 31 Jahre alt ist sagt er und gibt offen zu, eine Rente für seine frühere Tätigkeit für den Schin Bet zu kassieren. Ungefähr 1.500 israelische Schekel bekommt er monatlich, umgerechnet 900 DM. Das ist mehr als Palästinenser aus dem Gaza-Streifen verdienen, die regelmäßig auf israelischen Baustellen oder in der israelischen Landwirtschaft arbeiten.

Er lebt hier seit zwei Jahren und kommt aus Gaza-Stadt. Als er das letztemal versuchte, dorthin zu fahren, sei er mit mehreren Kugeln im Bein zurückgekommen, erzählt er. Nach Israel zu fahren fällt ihm dagegen leichter. Zuletzt war er vor drei Tagen mit seiner Arbeitsgenehmigung dort. Das einzige Problem sei, daß er immer Angst habe, dort bei der Arbeit andere Palästinenser aus dem Gaza-Streifen zu treffen.

Schuldgefühle scheinen weder ihn noch Abu Jussuf zu plagen. Verantwortlich für ihre Misere seien andere und schließlich hätten auch die meisten PLO-Funktionäre keine weißen Westen. Abu Jussuf behauptet gar, mit seinen guten Kontakten zu den Besatzern zahlreichen Palästinensern Arbeitsgenehmigungen in Israel besorgt zu haben. Einmal habe er seinen Einfluß gar genutzt, um einen Bruder aus dem Gefängnis freizubekommen. Während er das erzählt, blickt er kurz selbstbewußt auf.

Als die Sprache auf ihre Kinder kommt, bricht das ganze Dilemma noch einmal hervor. „Wir wissen nicht, was sie machen werden, wenn sie die ganze Geschichte einmal verstehen“, sagt Abu Jussufs Nachbar. Sein ältester Sohn ist heute zehn Jahre alt, und er fürchtet, daß er ihn früher oder später verlassen wird.

Doch Abu Jussuf und seine Kollegen sind nicht die einzigen Bewohner Dahaniyas. Die „Bauern von innerhalb des Gaza-Streifens“, wie sie sich gerne selbst nennen, machen nur eine Handvoll Familien aus. Die überwiegende Mehrheit, mehr als 60 Familien, sind Beduinen. Sie wurden hier nach dem Truppenentflechtungsabkommen zwischen Israel und Ägypten 1974 angesiedelt. Scheich Ischtiwi ist einer von ihnen und gleichzeitig der Chef der Dorfverwaltung. Vorsichtig erzählt er zunächst von den Einrichtungen vor Ort, einer Schule, einem Kindergarten, einer kleinen Klinik und der Moschee. Doch schon bald sprudelt aus ihm der Ärger über seine „besonderen“ Nachbarn hervor. Diese seien für die Isoliertheit des Dorfes verantwortlich. Zwar könnten die Beduinen ungefährdet den Rest des Gaza-Streifens besuchen, denn dort wisse jedermann zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Die Verwandten kämen aber äußerst ungern zu Besuch. Als die ersten Kollaborateure in Dahaniya angesiedelt wurden, änderte sich das Leben der restlichen Bewohner schlagartig. Das Dorf wurde zur Sicherheitszone. Er selbst hat als Dorfvorsteher nicht viele Befugnisse. „Die israelische Zivilverwaltung ruft an und sagt, daß eine neue Familie kommt und ein Haus vorbereitet werden soll“, beschreibt der Scheich das übliche Prozedere. Unterdessen betritt ein bewaffneter Israeli in Zivil den Raum, um ungefragt einmal das Telefon zu benutzen. Warum die Neubürger kommen wird dem Dorfverwalter nicht gesagt. Aber aufgrund des täglichen Austausches zwischen den Beduinen und Leuten aus dem Rest des Gaza-Streifens weiß es ohnehin jeder.

Auch bei den Zukunftsperspektiven geht ein Riß quer durch das Dorf. Die Beduinen wollen in die zukünftige palästinensische Selbstverwaltung integriert werden. Abu Jussuf und die Seinen sehen ihre Zukunft eher in Israel. Die Erwachsenen, so Scheich Ischtiwi, würden sich nur mit Worten streiten. Die Kinder beider Seiten trügen ihre Konflikte dagegen täglich bei Prügeleien in der Schule und auf der Straße aus. „Für unsere Kinder ist das kein so großes Problem. Wir sind in der Mehrheit“, grinst Ischtiwi.

Die „Bauernfamilien“ haben Angst vor der Zukunft und den weiteren israelisch-palästinensischen Verhandlungen. Israel wird sie nicht im Stich lassen, hoffen sie. Der restliche Gaza-Streifen bleibt für sie „tödliches Gebiet“. „Warum“, fragt Abu Jussuf kurz vor der Abfahrt, „siedelt man uns nicht einfach innerhalb Israels an und gibt uns eine israelische Identität?“ Das wäre wahrscheinlich die einfachste Lösung. Doch die israelischen Behörden selbst scheinen ihren ehemals wertvollen Mitarbeitern nicht ganz über den Weg zu trauen.