Wer lügt denn nun?

Heike Drechsler hat bereits verloren, noch ehe das Urteil im Berendonk-Prozeß gesprochen ist  ■ Von Cornelia Heim

Heike ist kein Glamourgirl, das für Unterwäsche posieren könnte“, sagt Manager Michael Mronz. Nein wirklich, dazu fehlt Heike Drechsler der Sex-Appeal von Katrin Krabbe. Aber die weit springende Mutter besitzt den natürlichen Charme des netten Mädchens von nebenan: „Ich freue mich schon auf den nächsten Höhepunkt“, sprudelte sie nach ihrem Sieg bei der Weltmeisterschaft in Stuttgart in die Mikros, „sportlicherseits.“

Der eigentliche Höhepunkt erfolgt aber in Heidelberg – „gerichtlicherseits“. Heike Drechsler, die sich so gerne als Sauberfrau und erstes Erfolgsprodukt made in united Germany feiern läßt, kann ihre Erfolge nicht reinen Gewissens genießen. So weit sie auch springt, immer holt ein Schatten aus der Vergangenheit sie ein: erst Doping, dann Stasi, wieder Doping. „Kein Kommentar“, lautet ihr Kommentar. Das spricht für sich. Über alte Zeiten spricht sie nicht, seit Brigitte Berendonk in ihren „Doping-Dokumenten“ festgestellt hat, daß das Doping keiner Sportlerin so lückenlos dokumentiert ist wie das von Heike Drechsler. Sie galt als „Musterbeispiel für harmonisches Jugend-Doping“. Und hat es weit gebracht: 1983 in Helsinki wurde sie Weltmeisterin – als jüngste Frau der Geschichte. Zehn Jahre später mußte sie sich 20 Dopingkontrollen unterziehen. In Stuttgart glückte ihr das Double. Die 28jährige stand ganz oben. Die Gesichtsmuskeln zuckten. „Es war soviel Emotion im Stadion.“

Wer dachte in dieser Stunde schon daran, daß der Drechsler- Clan im Vorfeld eifrig gewirbelt hatte, damit kein Körnchen schmutzigen Sandes die Freude schmälerte? Zwei Tage vorher war Gerichtstermin in Heidelberg. Eigentlich. Der wurde verschoben, weil der Hauptzeuge aus der Schweiz sich von Drechslers Anwälten überzeugen ließ, daß es sich mit der Verantwortung, die Favoritin könnte ihren WM-Titel in den Sand setzen, schwer leben läßt. Heike Drechsler holte den Titel. Das hohe Gericht hatte sich vertagt – auf November. Da wurde die Beweisführung geschlossen, morgen wird eine Entscheidung bekanntgegeben.

Der taktische Schachzug war Gold wert. Denn Heike Drechsler weiß, daß sie diesen Prozeß nicht gewinnen kann – egal, wie das Urteil ausfällt. Weshalb? Nach ihrem Olympiasieg in Barcelona meldeten der Sportinformationsdienst Zürich und die Deutsche Presse- Agentur (dpa), die Thüringerin habe in einer Pressekonferenz behauptet, „Brigitte Berendonk lügt“. Die Studienrätin habe für ihr Buch große Namen wie den ihren gebraucht, des besseren Absatzes wegen. Seit die unerbittliche Dopingfahnderin aber vor dem Heidelberger Landgericht eine Zivilklage auf Unterlassung angestrengt hat, leidet Frau Drechsler ganz plötzlich unter akutem Gedächtnisschwund. Lügt sie, oder lügt sie nicht? Heike Drechsler will sich nie geäußert haben. dpa-Redakteur Oliver Hartmann kann sich aber erinnern. Ebenso der Schweizer Journalist Peter Frei. Ehemann Andreas, Schwiegervater Erich, die Journalisten Walter Straten (Bild), Henning Eisfeld (Sportinformationsdienst) sowie ihr österreichischer Manager Robert Wagner wollen von „Lüge“ nie etwas gehört haben. Selbst wenn Heike Drechsler den Prozeß gewinnen sollte, hat sie verloren. Weil sie genau damit eingesteht, daß Brigitte Berendonk in ihrem Buch die Wahrheit dokumentiert hat. Katrin Krabbe ist laufend gestrauchelt. Heike Drechsler hat sich selbst ein Bein gestellt.

Eine Heike Drechsler steht immer wieder auf. Doch diesmal wird sich das Aufstehen als beschwerlich erweisen. Ein Tonbandprotokoll ist nach drei Verhandlungsrunden und kurz vor dem Entscheidungstermin am 16. Dezember aufgetaucht. Der Mitschnitt eines Heike-Fans von besagter Pressekonferenz belastet die Drechsler-Partei erheblich. Brigitte Berendonk stellte nochmals Strafanzeige. Diesmal gegen alle Drechsler-Zeugen und gegen die Weltmeisterin – wegen uneidlicher falscher Aussage und wegen versuchten Prozeßbetruges. Auf beide Delikte steht Gefängnis, mit oder ohne Bewährung.

Doping ist nur eine Seite ihrer vielen Medaillen. Die Vergangenheit eine andere. Die läßt sie nicht los: Zehn Tage lang galt sie in der Öffentlichkeit als Stasi-Spitzel. Sie selbst war nach Informationen des Spiegel Monate vorher über ihre Akte in der Gauck-Behörde im Bilde und mimte, schauspielerisch nicht schlecht, die empört Unschuldige, als sie geoutet wurde. Dann befreite sie der ehemalige Stasi-Major Heinz Bergner, ihr Führungsoffizier, von dem Vorwurf der geheimdienstlichen Schnüffelei. Vor laufender Kamera im „Aktuellen Sportstudio“ durfte sich Heike Drechsler gegen den intimen Freund der Familie erregen, er habe die guten Beziehungen ausgenutzt, sie selbst habe nie gewußt, daß sie als „Inoffizieller Mitarbeiter im Vorlauf“ geführt worden sei. So werden aus Tätern Opfer. Als die Schweinwerferlichter ausgingen, knuffte sie Bergner grinsend in die Seite, wie prima doch alles gelaufen sei.

Heike Drechsler steht immer wieder auf. Obschon, Kritik hört man im trauten Familienkreis nicht allzu gerne. Wird selbige nämlich allzu vernehmlich, droht der Drechsler-Clan schon mal mit Auswanderung. Österreich, Refugium glücklicher Kühe und hormongemästeter Sprinter, gilt dann als gelobtes Land. Ausgerechnet jenes Schlaraffenland für ausgemusterte Ost-Trainer, welche hierzulande dank der Enthüllungen über flächendeckendes Doping in der DDR nicht mehr tragbar sind. Werner Trelenberg zum Beispiel. Der vormalige DDR-Cheftrainer, welcher seiner einstigen Musterschülerin damals die besten Noten ausstellte: „Heike ist ein typisches Kind unserer Republik.“

Trotz fortfliegender Pläne, das Familienunternehmen Drechsler braucht die Bodenhaftung wie eine Schildkröte ihren Panzer. „Wir können doch nicht alle davonlaufen.“ Heike Drechsler blieb nach der Wende in Jena und – anders als viele (Ost-)Sportler – taub für die Balzrufe potenter Konzernvereine wie unter anderen den von Bayer Leverkusen. Statt Geld abzuzocken, offenbarte sie vielmehr Anpassungsprobleme – „ich wußte nicht einmal, was man bei einer Pressekonferenz anzieht“.

In den existentiell wichtigen Dingen des Lebens wußte sich Heike Drechsler indes immer zu helfen. Ihre zweite Karriere begann sie mit einem strategischen Rauswurf. Peter Hein, immerhin jener Mann, welcher sie zwölf Jahre lang zu der Weltklasseathletin gemacht hat, die sie nun einmal seit einem Jahrzehnt ist, fand sich auf der Straße wieder. Dafür verschaffte sein Ex-Zögling Schwiegervater Erich, bis dato Lehrwart für den Hochsprung der Männer und nach Spiegel-Informationen Stasi-Lieferant, flugs eine Anstellung beim Deutschen Leichtathletik-Verband, indem sie fortan ihn zu ihrem Coach bestimmte.

Ironie der Geschichte: Peter Hein, dessen wohl größte Leistung es war, nicht der omnipräsenten SED-Staatspartei beigetreten zu sein, handelt heute mit Sanitäranlagen und darf vor dem Fernseher zusehen, wie Ex-Genossin Drechsler – Parteigängerin und Volkskammer-Mitglied – wieder steil nach oben klettert. „Es schmerzt vor allem“, sagt der Ex-Trainer, „wie Heike den Bruch vollzogen hat.“ Abrupt. Ohne Danke.

Heike Drechsler läßt sich mit 28 nicht mehr wie im Arbeiter-und- Bauern-Staat vor jeden Karren spannen. Statt in Monaco als Fürsprecherin von Olympia 2000 in Berlin aufzutreten, ging Erich Honeckers „Botschafterin im Trainingsanzug“ in Tokio bei einem Schauspringen ihren eigentlichen Geschäften nach und bereicherte ihre Haushaltskasse um 60.000 Dollar. Die Weltmeisterin tingelte – wie alle anderen – den Geldmeisterschaften hinterher.

Peter Hein hat umgeschult. Heike Drechsler, der einstige „real existierende Star des Sozialismus“ (Sport Zürich), ist Großverdienerin im kapitalistischen Profizirkus geworden. Schneller, weiter, teurer. Noch mehr. Wenn sie springt, soll die harte D-Mark künftig so richtig rollen. Dafür sorgt seit kurzem die Kölner Agentur M & M. Manager Michael Mronz ist der Ansicht, „Heikes Popularität“ lasse sich „noch viel besser verkaufen“. Das große Vorbild von Geschäftsfrau Drechsler heißt Heike – Henkel. Die Überfliegerin des deutschen Sports machte sich als Fotomodell einen Namen und mit diversen Werbeaufträgen zur Millionärin. Heike Drechsler muß sich, trotz gleicher sportlicher Erfolge, noch mit der Hälfte dieses Jahresumsatzes bescheiden. Aber, erzählt Michael Mronz, „sie hält sich selbst für unbezahlbar“. Schneller, weiter, teurer. Über alte Zeiten spricht man besser nicht: vergangen, vergessen, vorbei.