■ USA: Vor einer neuen Bewegung gegen „gun violence“
: Zyklisches Zusammenzucken reicht nicht mehr

Jugendgewalt, die eigentlich Jungengewalt heißen müßte, ist in den USA längst keine soziologische Umschreibung mehr für Schlägereien oder Gangrivalitäten à la „West Side Story“. Jugendgewalt ist heute Synonym für Zehnjährige, die im Auftrag von Drogendealern Menschen ermorden; für Metalldetektoren und kugelsichere Fenster in Schulen; Achtkläßler, die in Florida Raubmorde an Touristen begehen oder einen Schulkameraden niederschießen, der sie angeblich beleidigt hat.

Jugendgewalt ist Synonym für Traumatisierung. Was das konkret heißt, können hundert Statistiken nicht begreiflich machen – wohl aber ein Gespräch mit Kindern: Die Elfjährige aus Washington, die schon ihre Beerdigung geplant hat. Die Achtkläßlerin, die nach dem Mord an ihrem Cousin einem Reporter der Washington Post erzählt, sie könne einen solchen Schock inzwischen gut verkraften, weil im letzten Jahr drei ihrer Brüder erschossen worden sind. Oder die siebzehnjährige Oberschülerin aus Boston, die bislang sechzehn Beerdigungen von ermordeten FreundInnen miterlebt hat.

Die Welt der Erwachsenen – sofern sie sich in den Medien widerspiegelt – reagiert: fassungslos, hilflos, manchmal rachsüchtig und mit einer erstaunlichen Fähigkeit zur Verdrängung. Als wäre hier aus heiterem Himmel ein Krieg zwischen Kindern und Teenagern ausgebrochen, eine dramaturgisch und waffentechnisch modernisierte Version von William Goldings „Herr der Fliegen“, in der sich schiffbrüchige Kinder auf einer einsamen Insel in eine mörderische Horde verwandeln. Erst der Auftritt eines Erwachsenen als Instanz, die Autorität und Sittlichkeit herstellt, macht sie wieder zu kleinen, hilfsbedürftigen Jungen.

Doch die Instanz ist gespalten: Sie will die Trennung in Gut und Böse, Opfer und Täter. Letzteren wird das Recht abgesprochen, Kind zu sein – vor allem dann, wenn sie getötet haben. Denn sie haben nicht nur das Leben eines anderen Menschen zerstört, sondern auch die Projektion der Erwachsenen, in deren Augen sie Unschuld und eine quasi instinktive Unfähigkeit zum Bösen repräsentieren. Daß ein Täter erst vierzehn oder fünfzehn Jahre alt ist, wird plötzlich nicht mehr zum mildernden, sondern erschwerenden Umstand. In immer mehr Bundesstaaten wird die Altersgrenze, ab der Jugendliche vor Gericht wie Erwachsene behandelt werden können, auf vierzehn Jahre heruntergeschraubt. Der oben genannte Achtkläßler steht wegen Mordes vor einem Geschworenengericht in Florida. Der Staatsanwalt will auf Todesstrafe plädieren.

In Zeiten omnipräsenter Gewalt und Verrohung auf ethische und moralische Werte zu pochen, wie es die amerikanische Öffentlichkeit zunehmend tut, ist erst einmal folgerichtig und notwendig. Verantwortung für die Gemeinschaft und für das eigene Handeln zu praktizieren und anderen abzuverlangen ist das wichtigste Instrumentarium, um Regeln für ein Zusammenleben in der Gesellschaft aufzustellen – vor allem dann, wenn staatliche Institutionen wie Polizei und Justiz versagen. Es gibt inzwischen im ganzen Land Tausende von Bürgerinitiativen, die die Schulen ihrer Kinder vor Drogendealern schützen, in der Nachbarschaft Patrouille laufen, in Schulen gewaltfreie Konfliktlösung trainieren, jugendlichen Gangmitgliedern entgegentreten, demonstrativ CDs von „Gangsta“- Rappern auf den Müll schmeißen und Schuluniformen einführen, damit die Nike-Basketballschuhe für 180 Dollar nicht mehr zum Statussymbol und zum Auslöser eines tödlichen Streits werden können.

All das hat nichts mit Vigilantentum oder Rückgriff in autoritäre Erziehungsmuster zu tun. Es ist ein Akt der Emanzipation und der Zivilcourage derjenigen, die tagtäglich vor allem in den Innenstädten mit den Folgen von Drogenkonsum und Gewalt konfrontiert sind: Eltern, LehrerInnen, GemeindepfarrerInnen, SozialarbeiterInnen und schließlich die Kinder und Teenager selbst. All das – und das wissen die Betroffenen am besten – sind kurzfristige Überlebensstrategien – mehr nicht.

Langfristige Lösungen aber setzen voraus, daß man den eigenen Horizont so lange erweitert, bis irgendwann wieder das Problem der ökonomischen Ungleichheit ins Blickfeld rückt – zum Beispiel der Umstand, daß 22 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in den USA unterhalb der Armutsgrenze leben. Den Zusammenhang zwischen Armut und Gewalt zu thematisieren ist mehr denn je ein Tabu. Denn es würden sich höchst unpopuläre Schlußfolgerungen aufdrängen: Geld, viel Geld aus der Staatskasse ist notwendig, um vor allem die Infrastruktur in den Großstädten wiederaufzubauen. Unter anderem Bill Clinton hat diesen Zusammenhang klar vor Augen, doch seine erster großer Schritt, ein Investitionsprogramm in Milliardenhöhe für Jobs, Ausbildung und Infrastruktur, ist im Kongreß gleich zu Anfang seiner Amtszeit gescheitert. Clinton hat jetzt eine enorme Chance, politisches und ethisches Stehvermögen zu beweisen, indem er dem Kongreß sein Programm erneut vorlegt – als Programm zur Bekämpfung jener Gewalt. Ohne Jobs, die den Menschen Selbstwertgefühl geben, kann man nicht erwarten, daß andere Werte – ob alt oder neu – Bestand haben. So seine Worte bei einer Ansprache vor schwarzen Geistlichen.

Bill Clinton wird sich einen erbitterten Streit liefern müssen mit all jenen, die lieber auf die bewährten ethnischen und kulturellen Abgrenzungsdiskurse zurückgreifen, um Konflikte zu analysieren. Die Blaupause für solches Denken bieten seit Jahren Autoren wie Arthur Schlesinger, bei denen der Untergang der (anglo)amerikanischen Identität durch die Abgrenzung der verschiedenen ethnischen Gruppen voneinander beklagt wird. Was Schlesinger und Co. nicht erwähnen, ist die Ausgrenzung gegen AfroamerikanerInnen, indem man sie mit den Problemen von Gewaltkriminalität und Drogenhandel identifiziert. Diese Stigmatisierung, die vor allem junge schwarze Männer betrifft, ist nicht neu. Neu ist, daß immer mehr weiße Intellektuelle die Bevölkerungsgruppe der Schwarzen in ihrer Gesamtheit für die Ursachen und Lösung des Problems verantwortlich machen. Da ist zum einen die Entlastungsthese: „Weiße können bei dieser Gruppe nichts mehr ausrichten“. Zum anderen die paternalistische bis drohende Aufforderung an den schwarzen Mittelstand, die „eigenen“ Leute zur Räson zu bringen: „Rassismus bekämpft man am besten, indem man die Kriminalitätsrate unter Schwarzen reduziert“. Und da ist das alte Bedrohungsszenario in neuer Form: „In ungefähr 80 Prozent der Gewaltverbrechen sind Schwarze die Täter und Weiße die Opfer“. Solche und ähnliche Argumente sind nicht nur rassistisch. Sie verdecken eine der ganz großen Lebenslügen der US-Gesellschaft: daß Waffen nur in der Hand von „Kriminellen“ Schaden anrichten, während der oder die „rechtschaffene“ BürgerIn ein Grundrecht auf die „Smith & Wesson“ hat. Die Realität, wenn man sie denn wahrhaben will, zeichnet ein anderes Bild: Die Mehrheit der über 15.000 Menschen, die letztes Jahr in den USA erschossen worden sind, wurden nicht von Drogendealern, Amokläufern oder Straßenräubern getötet, sondern von Familienmitgliedern, Freunden, Nachbarn, Arbeitskollegen oder Schulkameraden.

Diese Lebenslüge aufzudecken traut sich so recht noch kein/e PolitikerIn – auch wenn ihnen die Zahlen auf dem Tisch liegen. Da ist es politisch opportuner, mit der „Angst vorm schwarzen Mann“ oder vorm schwarzen Teenager zu spielen. Zynischerweise hat unter anderem dieses Bedrohungsszenario in der jüngsten Zeit politischen Handlungsspielraum eröffnet: Erst seit weiße Touristen in Florida oder weiße Senatsmitarbeiter in Washington Opfer von Raubmorden werden, wächst der politische Handlungsdruck: Der Kongreß hat unlängst eine Wartefrist beim Kauf von Schußwaffen eingeführt. Wenn der Schock anhält, werden weitere Gesetze folgen: ein Bann von Maschinengewehren und -pistolen; Waffenverbot für Jugendliche und die Einführung von Lizenzen. Doch wenn's das war, so ginge es um nichts weiter als das zyklische Zusammenzucken einer waffenfixierten Nation, das etwa alle dreißig Jahre zu beobachten ist – zuletzt nach den Morden an den Kennedy-Brüdern und Martin Luther King.

Aber diesmal könnte aus den Tausenden lokalen Initiativen gegen Gewalt und Waffenwahn eine soziale Bewegung werden. Es wäre, 25 Jahre nach Martin Luther King, die erste, in der Schwarze und Weiße wieder Koalitionen bilden. Eine wichtige Voraussetzung entsteht gerade: Die typisch amerikanische Mischung aus Pathos und Pragmatismus. Gun violence wird inzwischen als „Epidemie“ definiert – das Schlagwort der neuen Bewegung. Epidemien sind nicht nur menschlich, sondern auch finanziell teuer – zu teuer, wie Hillary Clinton ihren Landsleuten vorgerechnet hat. „Epidemie“ – das ist gleichzeitig ein Aufschrei, der sich hervorragend zur Mobilisierung eignet, denn er erklärt das ganze Land für bedroht, nicht eine Gruppe. Und die Kinder sind nicht von alleine krank geworden. Sie haben sich bei den Erwachsenen angesteckt. Andrea Böhm